Das Jahr war 1928, und ich wurde damals 16 Jahre alt. Der Ort war Berlin.
Mein unvergesslicher Vater (Jonas Plaut, geboren 1880) schlug vor, mit der Strassenbahn in die Stadt zu fahren (wir hatten natürlich kein Auto), um an einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Die Organisation, die sie veranstaltete, hatte einen englischen Titel: „World Union for Progressive Judaism.“ Mein seliger Vater war sehr davon beeindruckt, und ich ebenso.
Ich habe die Veranstaltung nie vergessen, denn sie hat in meinem Leben eine grosse Rolle gespielt. Ich war als liberaler Jude erzogen worden, was im damaligen Deutschland noch immer eine Ausnahme war, und ich lernte nun, dass das liberale Judentum eine weltweite Bewegung war. Ich traf englische Juden, die mich nach London bringen wollten, aber es dauerte noch Jahrzehnte, bis ich meine erste Reise nach England machen konnte. Ich habe das genaue Jahr vergessen, aber nicht, was dort geschah. Ich sass zu Seiten des bedeutendsten Reformjuden jener Jahre. Es war Rabbiner Dr. Solomon Freehof, der Rabbiner in Pittsburgh war.
Meine Autobiografie, „Unfinished Business,“ enthält die folgende Erinnerung: „Dr. Freehof sagte zu mir: ‘Günther, wir Reformjuden brauchen ein Buch, das den Beginn des Reformjudentums beschreibt, und du kannst das tun. Ich werde zusehen, dass es veröffentlicht wird.“ Ich versprach es, zu schreiben, und als es fertig war, wurde das Buch schnell veröffentlicht und bekam eine gute Leserschaft. (‘The Rise of Reform Judaism“ – „Der Aufstieg des Reformjudentums“, 1963). Für mich, der heute in seinem neunzigsten Jahre steht, sind dies wichtige Erinnerungen, die das Gestern mit dem Heutigen verbinden. Möge unsere Religion weiterhin an Stärke gewinnen.
Rabbiner Dr. Wolf Günther Plaut
Ehemaliger Präsident der Zentralkonferenz amerikanischer Reformrabbiner, ehemaliger Präsident des jüdisch-kanadischen Kongresse
Die Tagung von 1928
Der Weltverband für das Liberale Judentum hielt, nachdem er 1926 in London gegründet worden war, 1928 in Berlin seinen ersten Kongress. Er musste sich nicht nur eine Verfassung geben, sondern auch vor der Öffentlichkeit bekunden, was er als seine Aufgabe betrachtete. Wenn man nach dem Echo urteilen darf, das der Kongress hervorgerufen hat, ist es gestattet ihn als voll gelungen zu betrachten. Er hat nicht nur eine grosse Schar treuer Anhänger des liberalen Judentums aus den verschiedensten Ländern und Erteilen zusammengeführt und ihre Begeisterung für die gute Sache noch gestärkt, sondern er hat auch auf die Gegner des liberalen Judentums einen tiefen Eindruck gemacht.
Geschichtliches
Das liberale Judentum entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland aus der Suche nach einer religiösen Form, die den Wunsch nach bürgerlichen Gleichstellung ohne Aufgabe der jüdischen Identität entsprach. Das liberale Judentum brachte bedeutende Gelehrte und wichtige Institutionen wie die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hervor und prägte mehrheitlich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, bis diese durch die Nazidiktatur vernichtet wurde.
Erinnerungen der Enkelin von Rabbiner Dr. Leo Baeck
Ich bin Leo Baecks Enkelin. Eine meiner frühesten Erinnerungen besteht darin, dass ich meine Mutter zum Gottesdienst am Morgen des Shabbat in die Synagoge auf der Fasanenstraße begleitete. Wir saßen im vorderen Teil der Frauenempore. Mein Großvater predigte. Ich flüsterte meiner Mutter zu: „Warum trägt Großvater dieses lange schwarze Gewand, und warum verstehe ich nicht, was er sagt?“.
Überlegungen zur Weltunion des Progressiven Judentums
Als die Führer der Liberalen, Progressiven und Reformgemeinden in Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt im August 1928 in Berlin zusammentrafen, um die erste internationale Konferenz der Weltunion des Progressiven Judentums abzuhalten, hatten sie sich kaum vorstellen können, dass die Weltunion 75 Jahre danach die größte jüdische Bewegung der Welt sein und in fast 40 Ländern mehr als 1,5 Millionen Mitglieder zählen würde.