Das liberale Judentum entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland aus der Suche nach einer religiösen Form, die den Wunsch nach bürgerlichen Gleichstellung ohne Aufgabe der jüdischen Identität entsprach. Das liberale Judentum brachte bedeutende Gelehrte und wichtige Institutionen wie die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hervor und prägte mehrheitlich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, bis diese durch die Nazidiktatur vernichtet wurde. Seine Repräsentanten, soweit sie rechtzeitig fliehen konnten oder die Vernichtungslager überlebt haben, trugen die Ideen des deutschen liberalen Judentums in ihre neue Heimat – vor allem in Nordamerika, Großbritannien und Israel. Sie halfen damit, das Reformjudentum zu der weltweit führenden Religionsrichtung innerhalb des Judentums zu entwickeln.
An diese Tradition knüpfen seit den 90er Jahren die in Deutschland neu entstandenen liberalen jüdischen Gemeinden und die von ihnen 1997 gegründete Union progressiver Juden in Deutschland an.
Ihr gehören derzeit 26 Gemeinden in ganz Deutschland sowie das in Potsdam angesiedelte Abraham Geiger Kolleg an, das erste nach dem Krieg gegründete liberale Rabbinerseminar in Kontinentaleuropa.
Die Tagung von 1928
Der Weltverband für das Liberale Judentum hielt, nachdem er 1926 in London gegründet worden war, 1928 in Berlin seinen ersten Kongress. Er musste sich nicht nur eine Verfassung geben, sondern auch vor der Öffentlichkeit bekunden, was er als seine Aufgabe betrachtete. Wenn man nach dem Echo urteilen darf, das der Kongress hervorgerufen hat, ist es gestattet ihn als voll gelungen zu betrachten. Er hat nicht nur eine grosse Schar treuer Anhänger des liberalen Judentums aus den verschiedensten Ländern und Erteilen zusammengeführt und ihre Begeisterung für die gute Sache noch gestärkt, sondern er hat auch auf die Gegner des liberalen Judentums einen tiefen Eindruck gemacht.
Ein Überlebender erinnert sich
Das Jahr war 1928, und ich wurde damals 16 Jahre alt. Der Ort war Berlin.
Mein unvergesslicher Vater (Jonas Plaut, geboren 1880) schlug vor, mit der Strassenbahn in die Stadt zu fahren (wir hatten natürlich kein Auto), um an einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Die Organisation, die sie veranstaltete, hatte einen englischen Titel: „World Union for Progressive Judaism.“ Mein seliger Vater war sehr davon beeindruckt, und ich ebenso.
Erinnerungen der Enkelin von Rabbiner Dr. Leo Baeck
Ich bin Leo Baecks Enkelin. Eine meiner frühesten Erinnerungen besteht darin, dass ich meine Mutter zum Gottesdienst am Morgen des Shabbat in die Synagoge auf der Fasanenstraße begleitete. Wir saßen im vorderen Teil der Frauenempore. Mein Großvater predigte. Ich flüsterte meiner Mutter zu: „Warum trägt Großvater dieses lange schwarze Gewand, und warum verstehe ich nicht, was er sagt?“.
Überlegungen zur Weltunion des Progressiven Judentums
Als die Führer der Liberalen, Progressiven und Reformgemeinden in Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt im August 1928 in Berlin zusammentrafen, um die erste internationale Konferenz der Weltunion des Progressiven Judentums abzuhalten, hatten sie sich kaum vorstellen können, dass die Weltunion 75 Jahre danach die größte jüdische Bewegung der Welt sein und in fast 40 Ländern mehr als 1,5 Millionen Mitglieder zählen würde.