Überlegungen zur Weltunion des Progressiven Judentums

Als die Führer der Liberalen, Progressiven und Reformgemeinden in Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt im August 1928 in Berlin zusammentrafen, um die erste internationale Konferenz der Weltunion des Progressiven Judentums abzuhalten, hatten sie sich kaum vorstellen können, dass die Weltunion 75 Jahre danach die größte jüdische Bewegung der Welt sein und in fast 40 Ländern mehr als 1,5 Millionen Mitglieder zählen würde.

Die Bewegung selbst war zwei Jahre zuvor, im Jahre 1926, unter der energischen Führung von Miss Lily Montagu, der ehrenamtlichen Schriftführerin, und Claude Montefiore, dem ersten Präsidenten, in London ins Leben gerufen worden. Das Mandat der jungen Organisation war eindeutig – die Vereinigung der bereits in verschiedenen Ländern der Welt existierenden progressiven Bewegungen innerhalb des Judentums und die Einrichtung einer Vertretung der Bewegung überall dort, wo jüdische Gemeinden bereit waren, sich einer solchen Herausforderung zu verpflichten.

Es verwundert kaum, dass die erste internationale Konferenz der Weltunion in Berlin, in Deutschland stattfand. Deutschland ist die Geburtsstätte des Reformjudentums. Seit dem 18. Jahrhundert hatte es hervorragende jüdische Denker hervorgebracht, wie etwa Mendelssohn, Zunz, Geiger und andere, welche den Grundstein für eine progressive Bewegung innerhalb des Judentums legten, die respektiert und anerkannt wurde.
Aus Deutschland kamen die führenden Pioniere des progressiven Judentums, welche die Botschaft der Bewegung in die entferntesten Ecken der Welt trugen. Die Reformbewegung in Nordamerika, die sich auf Wurzeln in Deutschland gründete, ist seit ihrer Entstehung eine unerschütterliche Verfechterin der Weltunion. Heute ist die Reformbewegung die größte und dynamischste jüdische Bewegung auf dem nordamerikanischen Kontinent und trug über die Jahrzehnte hinweg sowohl materiell als auch mit Führungspersönlichkeiten umfassend zum Erfolg der Weltunion bei.
Die organisatorischen Bemühungen von seiten der Weltunion sowie von seiten der außergewöhnlichen rabbinischen Gesandten, die in ihrem Namen hinaus in die Welt zogen, hatten die Gründung progressiver Bewegungen über Amerika und Europa hinaus in Indien, China, Australien, Neuseeland, Südamerika, der Karibik und natürlich im jüdischen Heimatland Israel zur Folge.

Die Verpflichtung der Weltunion gegenüber dem Aufbau einer starken und tatkräftigen Reformbewegung in Israel führte 1973 zur Errichtung ihres internationalen Hauptquartiers in Jerusalem. Der beeindruckende Erfolg der israelischen Bewegung des Progressiven Judentums resultierte in der Errichtung zahlreicher Synagogen und Gemeindezentren, Kibbutzim, Kindergärten und Schulen sowie der Einrichtung eines religiösen Aktionszentrums, das die Sache der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung für alle Juden und Nichtjuden im Staat Israel vorantreibt.

Das Bedürfnis für eine starke, international anerkannte Schirmorganisation zur Verbreitung der ideologisch-spirituellen Botschaft des liberalen Judentums und die Bereitstellung institutioneller und finanzieller Unterstützung für junge jüdische Gemeinden, die sich mit dem Progressiven Judentum identifizieren wollen, ist heute nicht weniger wichtig als vor fast einem Jahrhundert. Eines der dramatischsten Beispiele für die raison d’être der Weltunion stellt das erneute Aufblühen jüdischen Lebens in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion (GUS) dar. Nach einem Jahrhundert der Unterdrückung, der Verunglimpfung und der Verfolgung erblickten die Juden in Russland, der Ukraine, in Belarus, dem Baltikum und anderen Staaten der GUS nach dem Zusammenbruch des Kommunismus das Licht einer neuen Welt.

In Anerkennung des historischen Imperativs, die Botschaft des liberalen Judentums, der jüdischen Hoffnung und Kontinuität in die zweitgrößte jüdische Diaspora zu tragen, machte es sich die Weltunion zur Aufgabe, das Progressive Judentum in der GUS zu etablieren. Im Jahr 2003 feiern wir nicht nur den 75. Jahrestag der ersten Konferenz der Weltunion, sondern auch die Bar/Bat Mitzwah, d.h., den 13. Jahrestag unserer Aktivitäten in der ehemaligen Sowjetunion – Aktivitäten, welche die Einrichtung von über 100 Gemeinden, einer dynamischen Netzer Olami-Bewegung sowie akademischer Ausbildungseinrichtungen, Seminare und Ferienlager zur Folge hatten und zudem die Ausbildung einer wachsenden Zahl einheimischer Rabbiner am Leo Baeck Kolleg, am Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion und an dem neu gegründeten Abraham Geiger Kolleg zeitigen.

Ein weiteres Beispiel der wichtigen Unterstützung und internationalen Finanzierung, welche die Weltunion einheimischen progressiven jüdischen Bewegungen zur Verfügung stellt, die Beistand brauchen, ist gegenwärtig in Argentinien zu sehen. Angesichts einer Wirtschaftskrise mit verheerenden Ausmaßen, welche die Schließung von Synagogen und Schulen erforderlich machte und Zehntausende Angehörige der jüdischen Gemeinde verarmen ließ, veranlaßte die Weltunion in Zusammenarbeit mit der einheimischen progressiven Bewegung das progressive Judentum auf der ganzen Welt zur Leistung lebenswichtiger humanitärer und erzieherischer Hilfe. Die Weltunion steht voll hinter den progressiven jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt. Die Geschichte scheint ihren Kreis zu schließen, wenn nun die Deutsche Union des Liberalen Judentums, die deutsche Partnerin der Weltunion, zu ihrer alljährlichen Konferenz in Berlin zusammentritt.

Hätten sich die führenden Persönlichkeiten der Weltunion, die 1928 in Berlin zusammentrafen, den Weg des Judentums im Verlauf des 20. Jahrhunderts und seine Rückkehr nach Deutschland auch nur im Entferntesten vorstellen können? Wer hätte vorhersagen können, dass im Jahre 2003 Deutschland das Land mit der am schnellsten zunehmenden jüdischen Bevölkerung sein würde? Erneut wird die Weltunion gefordert, um ihre angesehene internationale Präsenz für den Beistand der legitimen Bemühungen seitens der einheimischen liberalen Bewegung in Deutschland um Anerkennung und Unterstützung einzusetzen.

Es ist unser Privileg, den Männern und Frauen, deren Hingabe entlang des ganzen Weges, vom Berlin des Jahres 1928 ins Berlin des Jahres 2003, das Überleben unseres kostbaren Erbes sicherstellte, unsere Anerkennung zu zollen. Möge dieser Augenblick des Stolzes in der Geschichte unserer Bewegung unseren Entschluß stärken, die wertvolle Arbeit der Weltunion des Progressiven Judentums fortzusetzen, und mögen wir unser Bewußtsein für die große Ehre und Verantwortung als die Überbringer von Gottes Botschaft auch weiterhin aufrecht erhalten.

Anlässlich des 75. Jahrestages der ersten internationalen Konferenz der Weltunion, Berlin, 1928: Rabbi Joel D. Oseran, Stellvertretender Direktor, The World Union for Progressive Judaism

Die Tagung von 1928

Der Weltverband für das Liberale Judentum hielt, nachdem er 1926 in London gegründet worden war, 1928 in Berlin seinen ersten Kongress. Er musste sich nicht nur eine Verfassung geben, sondern auch vor der Öffentlichkeit bekunden, was er als seine Aufgabe betrachtete. Wenn man nach dem Echo urteilen darf, das der Kongress hervorgerufen hat, ist es gestattet ihn als voll gelungen zu betrachten. Er hat nicht nur eine grosse Schar treuer Anhänger des liberalen Judentums aus den verschiedensten Ländern und Erteilen zusammengeführt und ihre Begeisterung für die gute Sache noch gestärkt, sondern er hat auch auf die Gegner des liberalen Judentums einen tiefen Eindruck gemacht.

Ein Überlebender erinnert sich

Das Jahr war 1928, und ich wurde damals 16 Jahre alt. Der Ort war Berlin. Mein unvergesslicher Vater (Jonas Plaut, geboren 1880) schlug vor, mit der Strassenbahn in die Stadt zu fahren (wir hatten natürlich kein Auto), um an einer internationalen Konferenz teilzunehmen. Die Organisation, die sie veranstaltete, hatte einen englischen Titel: „World Union for Progressive Judaism.“ Mein seliger Vater war sehr davon beeindruckt, und ich ebenso.

Erinnerungen der Enkelin von Rabbiner Dr. Leo Baeck

Ich bin Leo Baecks Enkelin. Eine meiner frühesten Erinnerungen besteht darin, dass ich meine Mutter zum Gottesdienst am Morgen des Shabbat in die Synagoge auf der Fasanenstraße begleitete. Wir saßen im vorderen Teil der Frauenempore. Mein Großvater predigte. Ich flüsterte meiner Mutter zu: „Warum trägt Großvater dieses lange schwarze Gewand, und warum verstehe ich nicht, was er sagt?“.

Geschichtliches

Das liberale Judentum entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland aus der Suche nach einer religiösen Form, die den Wunsch nach bürgerlichen Gleichstellung ohne Aufgabe der jüdischen Identität entsprach. Das liberale Judentum brachte bedeutende Gelehrte und wichtige Institutionen wie die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums hervor und prägte mehrheitlich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, bis diese durch die Nazidiktatur vernichtet wurde.

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