Am 25. Februar beginnt Purim. Dieses Jahr wird es keine vollen Synagogen zur Verlesung der Purimgeschichte aus der Megillat Esther geben können, kein Purimspiel mit Publikum, keine ausgelassenen Parties. Dass Purim für uns vor allem auch ein Symbol ist, hat 1934 der liberale Rabbiner Max Dienemann (1875‒1939) betont: »Von Purim geht für alle Betrachtung jüdischer Geschichte und jüdischen Erlebens die Erkenntnis aus: ein Wunder nicht zu begreifen, nicht zu errechnen. Purim ist der Tag der Erinnerung daran, dass Gott Sorgen und Furcht von unseren Schultern nehmen kann.« Trotz allem: Purim sameach!
Das zentrale Ereignis des Purimfestes ist die Verlesung der Purimgeschichte am Vorabend und am Tag des 14. Adar aus der Megillat Esther. Die Esthergeschichte spielt am Hof des persischen Königs Ahaschveros (mit diesem Namen ist vermutlich Xerxes I. gemeint, der von 486 bis 465 v. u. Z. regierte), dessen Minister Haman sich an einem Juden rächen will und dies zum Anlass nimmt, allen Juden des Landes nach dem Leben zu trachten. Die jüdische Gemeinde wird aber durch die kluge Initiative von Esther (ihr hebräischer Name ist Hadassa), die aus dem jüdischen Volk stammt, ihr Judentum aber verborgen hält und den König von Persien heiratet, vor diesem Schicksal bewahrt. DerName des Festes kommt von dem Wort pur, einem Wort persischen Ursprungs, das »Los« bedeutet; in Est 9,31 heißt es jome purim (»Lostage«), und der Plural purim allein kommt in Est 9,29 und 9,32 vor. Purim gehört heute neben Chanukka zu den populärsten Festen im jüdischen Kalender, und es gibt ein vielfältiges Brauchtum dazu. »Ein froh bescheid’nes Fest«, nannte es Martin Buber (1878–1965) in seinem Purim-Prolog von 1903, »ein Fest des Frohsinns und der bunten Farben«. Wann immer der Name Hamans in der Esthergeschichte fällt, schlagen die Kinder in der Synagoge Krach. Dieser Brauch wird auf den Befehl Gottes zurückgeführt, den Namen von Hamans Vorfahr Amalek auszulöschen, der das Volk Israel auf dem Weg ins verheißene Land behindert hatte und dessen Name zum Inbegriff der Judenfeindschaft geworden ist (Ex 17,14). Traditionell gehören zu diesem Fest die sogenannten Hamantaschen, ein dreieckiges Gebäck, das mit Pflaumenmus, Honig oder Mohn gefüllt wird. Bei dem Buch Esther, in dem die Purimgeschichte erzählt wird, handelt es sich um das einzige Buch in der Hebräischen Bibel, in dem Gott keine Erwähnung findet.
Deutschsprachige Estherrolle von 1746, © Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover
Brauchtum zu Purim
Da die Rettung des jüdischen Volkes in Persien durch eine Frau geschah, wird im Talmud festgelegt: »Frauen sind zum Lesen der Estherrolle verpflichtet, denn sie waren an diesem Wunder beteiligt « (bTMeg 4a). Es gibt inzwischen auch zahlreiche feministische Lesarten, die sich kritisch mit der Rolle von Vaschti, der ersten Frau des Königs, mit Esther und mit dem Status der Frau im Judentum auseinandersetzen. So werden Vaschti und Esther als dynamische Gegensätze verstanden, die zwei Stadien feministischen Bewusstseins verkörpern, nämlich Widerstand und politische Strategien. Rabbinerin Lynn Gottlieb (geb. 1949) erinnerte daran, dass Esther Hoffnungsträgerin für die zwangsgetauften Juden im mittelalterlichen Spanien und Portugal, die sogenannten Marranen, war. Viele Marranen praktizierten ihr Judentum im Geheimen. »Die Frauen der Marranen-Gemeinden sahen sich als Königin Esther«, indem sie versteckt ein jüdisches Leben führten, während sie nach außen als Christinnen lebten. »Sie leiteten Gemeindegebete, führten Trauungen durch und entwickelten Rituale rund um das Fasten Esthers, welches zu einem Hauptfeiertag der ›conversos‹ wurde.«
Liberale Juden haben die Purimgeschichte, die mit einer umfassenden Racheaktion endet, oft kritisiert. So schrieb Schalom Ben-Chorin 1938: »Ich schlage vor, das Purim-Fest vom jüdischen Kalender abzusetzen und das Buch Esther aus dem Kanon der Heiligen Schriften auszuschließen. Fest und Buch sind eines Volkes unwürdig, das gewillt ist, seine nationale und sittliche Regeneration unter ungeheuren Opfern herbeizuführen; stellen sie doch eine Verherrlichung der Assimilation, des Muckertums, der hemmungslosen Erfolgsanbeterei dar.«
Chassiden feiern Purim zusammen mit einem sefardischen Juden. Safed, 19. Jh., ©YIVO.
In Israel ist Purim Anlass für einen Karnevalsumzug, bekannt als adlojada, eine Zusammenfassung des aramäischen ad d’lo jada (»bis niemand mehr weiß«). Selbst das sogenannte Cross-Dressing, das von der Tora verbotene Kostümieren als das jeweils andere Geschlecht, war zu Purim in denjenigen Gemeinden erlaubt, die vom italienischen Karneval beeinflusst waren. So wie der Karneval Ostern vorausgeht, so geht Purim der einen Monat dauernden Vorbereitung auf Pessach voraus. Einen Tag nach Purim beginnen religiöse Juden traditionell damit, ihren Haushalt für die Feier der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei zu kaschern, also im Sinne der Religionsgesetzes rein zu machen. Der jüdischen Tradition zufolge wird Purim das einzige Fest sein, das noch in messianischen Zeiten gefeiert werden dürfte – wohl weil mit der veränderten sozialen und politischen Ordnung im Zuge der kommenden Erlösung alle aktuellen Grenzen und Beschränkungen außer Kraft gesetzt sind, die die Entfaltung der Seele, der neschama, beeinträchtigen. So wie Purim unübliche Kleidung und unkonventionelles Benehmen erlaubt, so wird das messianische Zeitalter die Überwindung der repressiven Normen und des Drucks bringen, den tyrannische Führer ausüben, um die intellektuelle und spirituelle Fortentwicklung ihrer Völker zu verhindern. Vielleicht schätzten die Kabbalisten Purim deswegen so sehr, dass sie im Namen von Rabbi Isaak Luria feststellten, dass Purim und Jom Kippur in ihrer Bedeutung vergleichbar seien.
Purim als Symbol
»Es ist das ewige Wunder in der Geschichte Israels: Immer ist es in der Minderheit, immer ist es umdroht, immer ist es am Rande der Vernichtung, immer steht es vor dem Ende; wenn es auf seine Kraft sich verlassen wollte, es wäre sicherlich verloren, wenn es auf Menschen sich stützen müsste, sie wären ohnmächtig. Dass es bleibt und dauert, ist immer das Walten Gottes, seine Lenkung der Geschichte. Von Purim geht für alle Betrachtung jüdischer Geschichte und jüdischen Erlebens die Erkenntnis aus: ein Wunder nicht zu begreifen, nicht zu errechnen. Purim ist der Tag der Erinnerung daran, dass Gott Sorgen und Furcht von unseren Schultern nehmen kann.« Rabbiner Max Dienemann, „Purim“, in: Der Morgen, Heft 9 (März 1934).
Aus: Andreas Nachama, Walter Homolka und Hartmut Bomhoff, Basiswissen Judentum, Freiburg i. Br. 2015, S. 265-269.