Tod und Trauer

Zu zählen unsre Tage so lehre uns, dass wir ein weises Herz erlangen. Ps 90,12

In der Tora wird in Gen 2,9 symbolisch dargestellt, dass im Paradies der Baum des (ewigen) Lebens dicht neben dem Baum der Erkenntnis stand. In diesem Zusammenhang ist erstmals von der Erkenntnis der Sterblichkeit des Menschen als einer Tatsache die Rede. Sterben und Tod treten ins menschliche Bewusstsein: »[…] denn Staub bist du und zum Staube wirst du zurückkehren« (Gen 3,19), »Und zurückkehrt der Staub zur Erde, wie er [diese] gewesen, und zurückkehrt der Geist zu Gott, der ihn gegeben« (Koh12,7) – aus dem letzten Vers spricht auch bereits der Glaube an ein Weiterleben der Seele in einer anderen Welt.

Die Tora selbst ist eine Lebenslehre: »So haltet meine Satzungen und meine Rechte. Welcher Mensch sie tuet, lebet durch sie« (Lev 18,5). Die Rabbinen folgerten daraus, dass der Mensch nicht an den Geboten zugrunde gehen soll. Alle Gebote mit Ausnahme derer, die Götzendienst, Unzucht und Mord betreffen, treten außer Kraft, wenn es darum geht, Leben zu retten, und sei es am Schabbat: »Unsere Meister lehrten: Man sei am Schabbat um Lebensrettung besorgt, und zwar je schneller, desto lobenswerter ist es […]« (bTJoma 84,6). Der hebräische Begriff für dieses Konzept der unbedingten Lebensrettung heißt pikuach nefesch.

Aus der Heiligung des Lebens und der Achtung des menschlichen Körpers ergibt sich, dass nicht nur Mord und Selbstmord in jedem Fall untersagt sind, sondern dass man traditionell auch Obduktionen und Organtransplantationen, Tätowierungen oder auch die Einäscherung von Leichen ablehnt. Im liberalen Judentum haben sich im Übrigen auch besondere Rituale im Falle von Totgeburten und Fehlgeburten oder von Suiziden entwickelt. Einen Sterbenden sollte man einerseits nicht berühren: Er gleicht einer Kerze, die in Gefahr ist, durch eine Bewegung zu verlöschen. Man lässt ihn aber auch nicht allein und versucht, seine Schmerzen zu lindern und ihm die Angst zu nehmen. Diese Zeit des Abschieds wird von Gebeten begleitet, die nach Möglichkeit gemeinsam mit dem Sterbenden gesprochen werden, allen voran das Schma Jisrael. Wenn nötig, werden die Gebete unterbrochen, sodass idealerweise mit dem letzten Atemzug das Wort echad (»einer«, »einzig«) aus dem Schma gesagt werden kann. Nach Eintritt des Todes, von dem man sich mittels einer Feder überzeugt,die man dem Sterbenden auf die Oberlippe legt, soll der Verstorbene nicht berührt werden. Man sagt: »Baruch dajan ha-emet« (»Gepriesen sei der, der in Wahrheit richtet«) und schließt dem Toten die Augen, da der Tod nach alter Vorstellung dem Schlaf gleichkommt. Diese Handlung obliegt nach dem Beispiel von Rachels erstem Sohn Josef (Gen 46,4) traditionell dem ältesten Sohn.

Trauerbräuche
Bestimmte Trauerrituale nach dem Tod naher Verwandter sind seit talmudischer Zeit üblich, sie variieren aber nach Zeit und Ort. Grundlagen sind jedoch stets der Respekt vor dem Toten (kawod ha-met) und die Rücksicht auf die Hinterbliebenen (kawodha-chaj). Die Heiligkeit des Menschen endet nach jüdischem Verständnis nicht mit dem Tod, und viele Bräuche bringen den Respekt vor ihr zum Ausdruck. So gilt das Betrachten eines Verstorbenen als unstatthaft. Unmittelbar nach Eintreten des Todes beginnt für die nahen Angehörigen eine Trauerzeit (aninut), die bis zum

Zeitpunkt der Bestattung reicht und während der sie von allen religiösen Pflichten befreit sind. Es ist üblich, gleich nach Eintritt des Todes alle Spiegel im Trauerhaus zu verhängen, um nicht zwei Tote zu sehen, die Lichter zu löschen und Wassergefäße auszuschütten, in denen der Todesengel dem Volksglauben nach sein Schwert gespült haben könnte: Bräuche zur Abwehr böser Mächte, die auf abergläubischen Vorstellungen beruhen, die in ähnlicher Form auch inchristlichen Kreisen noch weit verbreitet sind und dem allgemein menschlichen Bedürfnis entspringen, der Krisensituation mit kleinen Ritualen zu begegnen. Die traditionelle Totenwache, die den Leichnam ursprünglich vor Tieren und Leichenräubern schützen sollte, erübrigt sich heute eigentlich, wird aber aus Respekt gegenüber dem Verstorbenen oft von Angehörigen und Freunden übernommen.

Die Bestattung
Traditionell findet die Beerdigung so früh wie möglich nach dem Tod statt (bTSanh 46b), im Allgemeinen jedoch nicht am gleichen Tag. Das deutsche Recht verlangt zudem eine Zeitdauer von 72 Stunden zwischen der Feststellung des Todes und der Bestattung. In einigen Fällen kann die Bestattung aufgeschoben werden, um zum Beispiel im Ausland lebenden Angehörigen die Teilnahme zu ermöglichen. Beerdigungen finden ferner nicht am Schabbat und an Festtagen statt. Im alltäglichen hebräischen Sprachgebrauch ist für den Friedhof, den »guten Ort«, der Ausdruck bet kwarot (»Haus der Gräber«) geläufig. Der religiöse Ausdruck ist aber bet ha-chajim (»Haus des Lebens«) oder bet olam (»Haus der Ewigkeit«). Eine jüdische Grabstätte ist auf ewig unverletzlich, eine »beschränkte Friedhofsruhe« wie auf kirchlichen oder kommunalen Friedhöfen unbekannt.

Der Beerdigungsgottesdienst ist kurz und schlicht. Er besteht aus einigen Gebeten und Psalmen, die zum Anlass passen, in denen also die Hilfsbedürftigkeit des Menschen und der Schmerz der Trauernden zum Ausdruck kommen: »Gott, du bist unsere Stärke. Hilf uns in unserer Schwachheit. Tröste uns in unserem Kummer. Gib uns Orientierung in unserer Fassungslosigkeit. Ohne dich ist unser Leben nichts. Aber mit dir haben wir die Fülle des Lebens bis in Ewigkeit.«

Die üblichen Gebete werden in nichtorthodoxen Gemeinden vom Rabbiner oder Kantor oft um eine Meditation oder um kurze literarische Texte ergänzt. Der Gottesdienst findet, so wie in der Synagoge auch, zum Teil in der Landessprache statt. In der Regel wird eine Traueransprache, ein hesped, gehalten, um die verstorbene Person zu würdigen. In traditionellen Kreisen sieht man von dieser Trauerrede dann ab, wenn die Beerdigung auf Rosch Chodesch, in den Monat Nissan oder die ersten sieben Tage des Monats Siwan, in die Tage vor Rosch Ha-Schana und Jom Kippur oder auf Chanukka oder Purim fällt, um diese Tage nicht zu überschatten.

In streng orthodoxen Kreisen wird es Frauen verwehrt, an der Beerdigung teilzunehmen. Nach orthodoxem Verständnis ist es auch Kohanim verboten, unmittelbar an einer Beerdigung teilzunehmen, um sich nicht zu verunreinigen; ein Kohen darf sich nur dann einem Grab nähern, wenn es sich um einen nahen Angehörigen handelt. Wenn der Sarg ins Grab versenkt wurde, gibt jeder Anwesende drei Schaufeln Erde darauf: »Staub bist du und zum Staube kehrst du heim.« Die Trauergemeinde wünscht den Hinterbliebenden und einander »auf simches«: auf dass man sich bei einer freudigen Gelegenheit wiedersehen möge. Ist der Sarg ganz mit Erde bedeckt, so sprechen traditionell die männlichen Hinterbliebenen – gegebenenfalls auch ein Mann, der nicht zur Familie gehört – das Kaddischgebet der Leidtragenden, kaddisch jatom (vgl. Kapitel 2.1.1.). Im liberalen Judentum ist es üblich, dass auch die Witwe oder die Tochter eines Verstorbenen Kaddisch sagt. Schließlich ist es Brauch, sich beim Verlassen des Friedhofs rituell die Hände zu waschen. Ein Leichenschmaus, wie man ihn etwa im Anschluss an christliche Bestattungen kennt, ist im Judentum nicht gebräuchlich. Alkohol wird bei Trauerfeiern traditionell vermieden, um das nüchterne Wesen des Anlasses zu wahren und eine Störung der Trauer zu vermeiden. Die erste reguläre Mahlzeit nach der Beerdigung wird üblicherweise von Nachbarn ausgerichtet und heißt se’udat ha-wara (»Stärkungsmahl«) oder »Mahlzeit der Erleichterung «. Unter den Speisen sind traditionell runde Teigwaren und hartgekochte Eier: Symbole dafür, dass das ewige Leben keinen Anfang und kein Ende hat.

Die Trauer der Hinterbliebenen um den Verstorbenen, der sein Leben nicht erhalten konnte und deshalb Gottes Gebote nicht mehr ausführen wird, ist im Judentum mit genau festgelegten Trauerriten und Gebeten verbunden. Sie ist mit psychologischem Verständnis geregelt: Auf die strengen Trauerriten in der ersten Woche folgt ein weniger strikter Trauermonat, für die Nächstverwandten des Verstorbenen danach ein ganzes Trauerjahr. Darüber hinaus wird der Toten auch weiterhin gedacht, und zwar am jährlichen Todestag, der »Jahrzeit«, und in Gedenkgebeten (jiskor), die viermal im Jahre in die Feiertagsgebete eingeschaltet werden. Außerdem wird die Trauerzeit in all ihren Phasen vom Kaddischgebet begleitet, das Gottes Walten trotz der Trauer der Leidtragenden verherrlicht.

Die Trauerzeit wird in verschiedene Zeitabschnitte unterteilt und markiert durch

  • die aninut,
  • die Schiwa,
  • die schloschim,
  • die Steinsetzung und
  • die Jahrzeit.

Aus: Andreas Nachama, Walter Homolka und Hartmut Bomhoff, Basiswissen Judentum, Freiburg i. Br. 2015. Dort gibt es im Kapitel „Tod und Trauer“ auch ausführliche Informationen zur Tahara (der rituellen Reinigung des Leichnams), zur Keria (das Zerreißen der Kleidung als Zeichen von Trauer) und zu den Trauerzeiten, aber auch zu Jenseitsvorstellungen.

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