Rabbiner*in

Funktion und Autorität des Rabbiners / der Rabbinerin
Die Rolle eines progressiven Rabbiners/ einer progressiven Rabbinerin ist vielfältig und anspruchsvoll. Tatsächlich erwartet man von einem Rabbiner*in oft, jedes Problem lösen zu können. Die offenkundigste Aufgabe eines Rabbiners / einer Rabbinerin ist die Leitung der Schabbat- und Festtagsgottesdienste. Ein progressiver Rabbiner*in ist in der Regel für den gesamten Gottesdienst zuständig; in orthodoxen Gemeinden trägt der Chasan die Verantwortung für den Gottesdienst. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass in progressiven Gemeinden an jedem Schabbat eine Predigt üblich ist. In einigen Synagogen geschieht dies im Abend- und im Morgengottesdienst, in anderen nur in einem der Gottesdienste; in dem anderen gibt es dann eine kurze Erklärung des Wochenabschnitts.

Ebenso führt ein Rabbiner*in Gottesdienste zu besonderen Anlässen durch, zum Beispiel Hochzeiten, Beerdigungen und während der Schiw’a. Ein weiterer wichtiger Arbeitsbereich ist der Unterricht. Er findet auf allen Ebenen der Gemeinde statt, einschließlich des Religionsunterrichtes, der Erwachsenenbildung, der Konversionsvorbereitung, der Lerngruppen und besonderen Veranstaltungen im Zusammenhang mit den Festen. Von gleicher Bedeutung ist die Aufgabe des Rabbiners / der Rabbinerin als Seelsorger*in. Das bedeutet, Kranke zu besuchen, seien sie zuhause oder im Krankenhaus, oder Trauernde und ältere Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, in die Synagoge zu kommen. Ebenso schließt es den Beistand in einem weiten Spektrum persönlicher Fragen ein, seien es Eheprobleme, Glaubenskonflikte, Verzweiflung oder andere Lebenskrisen.

Dies ist die Arbeit eines Rabbiners / einer Rabbinerin, die nur von den Personen wahrgenommen wird, die im jeweiligen Fall betroffen sind. Oft nimmt jedoch gerade diese wenig sichtbare Arbeit die meiste Zeit in Anspruch. Weil die Probleme oft sehr weit reichen und die Notwendigkeit besteht, professionell zu reagieren, haben viele progressive Rabbiner*innen eine zusätzliche Ausbildung in Eheberatung, Psychotherapie oder anderen Beratungsformen. Dies ist eine der wichtigsten Entwicklungen über die ursprüngliche Aufgabenstellung eines Rabbiners / einer Rabbinerin hinaus und für das Gemeindeleben sehr bereichernd.

Neben Gottesdienst und Predigt, dem Unterricht und der persönlichen Seelsorge tritt die althergebrachte Aufgabe eines Rabbiners / einer Rabbinerin: Er soll eine religiöse Anleitung in moralischen, persönlichen und rituellen Fragen geben. Dies können ethische Fragen zu einem geschäftlichen Problem sein oder die Frage, ob man das Kaddisch für seinen Ex-Partner sagen muss, nachdem man wieder verheiratet ist, oder welchen Lobspruch man sagen soll, wenn man am Jom Kippur aus gesundheitlichen Gründen etwas essen muss, wie man den Kindern eine starke jüdische Identität vermitteln kann, warum spiritistische Sitzungen abzulehnen sind und wann man einem adoptierten Kind von seiner Herkunft erzählen soll.

Einige Rabbiner*innen haben Beispiele solcher Fragenkataloge zusammen mit ihren Antworten in Gemeinderundbriefen veröffentlicht. Sie dienen einerseits als Unterrichtsmaterial, andererseits haben sie die Funktion progressiver Responsen. Außerdem zeigen sie den Gemeindemitgliedern, welche Hilfen sie von ihrem Rabbiner / ihrer Rabbinerin erwarten können. Der Rabbiner / die Rabbinerin hat darüber hinaus mit Fragen zu tun, die die Gemeinde als Ganze betreffen, wie zum Beispiel die Gestaltung einer Bar/Bat-Mitzwa oder der Synagogenveranstaltungen am Schabbat. In einigen Gemeinden wird der Rabbiner / die Rabbinerin in seiner Entscheidung von einem Ritual-Ausschuss unterstützt, teilweise, um die Sicht der Laien einzubringen, teilweise, um bei Verwaltungsangelegenheiten zu helfen.

Von einem Rabbiner / einer Rabbinerin erwartet man, dass er auch am sonstigen Gemeindeleben sowie an gesellschaftlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilnimmt. Regelmäßige Treffen von Müttern mit ihren Kindern, Jugendgruppen oder Freundeskreisen sind wichtig. Viele Rabbiner*innen begrüßen dies als eine Gelegenheit, diejenigen zu treffen, die Teil der Gemeinde sind, aber nicht zu den Gottesdiensten kommen oder die Gottesdienstbesucher in einem anderem Umfeld zu erleben. Der Rabbiner / die Rabbinerin ist qua Amt Mitglied des Gemeindevorstands der Synagoge. Auch darin unterscheidet er sich von einem orthodoxen Rabbiner*in, der vielfach nur eine religiöse Rolle wahrnimmt und keinen Anteil an den organisatorischen Aspekten der Gemeinde hat.

Der Rabbiner / die Rabbinerin nimmt viele Aufgaben außerhalb der Synagoge wahr. Er hält Vorträge in Schulen, Kirchen, in der Erwachsenenbildung, sucht die Beziehungen zu den Amtsträgern anderer Religionen und repräsentiert die Synagoge in der Öffentlichkeit. Ebenso ist es sinnvoll, wenn der Rabbiner / die Rabbinerin eine Funktion in der Union Progressiver Juden oder der Weltunion hat. Dies könnte bedeuten, dass er in Ausschüssen mitarbeitet, an Feriencamps mitwirkt, Synagogen ohne eigenen Rabbiner*in besucht oder anderes. Hinzu kommt, dass alle Rabbiner*innen, die in progressiven Gemeinden tätig sind, als Mitglieder des Europäischen Rabbinatsgerichtshofes amtieren können. Schließlich arbeitet ein Rabbiner / eine Rabbinerin aktiv in der Rabbinerkonferenz mit, der er / sie angehört.

Die Autorität des Rabbiners / der Rabbinerin beruht auf seiner Semicha (Ordination). Sie erfolgt durch drei Rabbiner*innen, nachdem der Kandidat ein eingehendes Studium – in der Regel an einem Rabbiner*innenseminar – absolviert hat. Seit dem 19. Jahrhundert ist es üblich, dass progressive Rabbiner*innen eine hochschuläquivalente Ausbildung erhalten und akademische Abschlüsse mindestens auf Magisterebene erwerben. In dieser Zeit studiert man die traditionellen jüdischen Quellen und lernt moderne seelsorgerliche Fähigkeiten, man sammelt praktische Erfahrungen in der Gemeindearbeit und im Unterricht. Die Semicha wird im progressiven Judentum Männern und Frauen gegeben.

Die Autorität eines Rabbiners / einer Rabbinerin innerhalb der eigenen Gemeinde wird durch zweierlei Rücksichten begrenzt. Einerseits muss er / sie die Strukturen seiner / ihrer Standesorganisation beachten. Entscheidungen werden in Rabbinerkonferenzen gemeinsam getroffen und koordiniert, denn es gibt kein zentrales Leitungsorgan, der eine zentrale Kontrolle ausübt. Zweitens werden alle Statusfragen – zum Beispiel Konversionen, Scheidungen und Adoptionen – vom Europäischen Bet Din entschieden. Die meisten anderen Aspekte des Gemeindelebens liegen in der Verantwortung des betreffenden Rabbiners / der betreffenden Rabbinerin, zum Beispiel die Frage, welche Gebete in der Landessprache gesprochen werden, ob nichtjüdische Speiselieferanten bei synagogalen Veranstaltungen beauftragt werden dürfen und welche Möglichkeiten zur Spendenbeschaffung angemessen sind. Im Bereich der gemeindlichen Beachtung der Gebote hat der Rabbiner / die Rabbinerin also einen beträchtlichen Einfluss, obwohl das progressive Judentum in Fragen der persönlichen Beachtung das Prinzip der freien religiösen Entscheidung des Einzelnen stark betont. Es wird auch kein anderer Rabbiner / keine andere Rabbinerin in die Autorität des jeweiligen Gemeinderabbiners / der jeweiligen Gemeinderabbinerin eingreifen und so seinen / ihre Kollegen / Kollegin bloßstellen.

Die meisten Rabbiner*innen erteilen den Laien keine Lehren, sondern diskutieren deren Fragen mit ihnen, um die Gemeinde mit einzubeziehen und den Entscheidungsprozess didaktisch zu nutzen. Man könnte ergänzen, dass es über bestimmte Fragen Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Rabbiner / einer Rabbinerin und der Gemeinde geben kann. Doch Rabbiner*innen, die das Vertrauen ihrer Gemeinde haben, werden in der Regel feststellen, dass ihre Ratschläge befolgt werden. Kein Rabbiner / keine Rabbinerin, weder im progressiven noch im orthodoxen Judentum, kann seine / ihre Autorität einer Gemeinde aufzwingen. Er / Sie wirkt durch den Respekt, den er / sie sich erworben hat und der / die seinem / ihrem Amt gebührt.

Da jeder Rabbiner*in wesentliche persönliche Autorität ausübt und da jede Gemeinde innerhalb der progressiven Bewegung autonom ist, gibt es beachtliche Unterschiede zwischen den Gemeinden. So kann die eine Synagoge eine Orgel und einen Chor haben und wesentliche Teile des Gottesdienstes in Hebräisch halten, eine andere hat weder Orgel noch Chor und betet den größten Teil des Gottesdienstes in Deutsch.

Jede Gemeinde hat ihren eigenen Minhag (Brauch), der sich über Jahre hinweg aus dem Zusammenwirken ihrer Mitglieder und der Persönlichkeit ihres Rabbiners / ihrer Rabbinerin gebildet hat. Dennoch gibt es eine weitgehende Übereinstimmung zwischen allen Gemeinden der europäischen Region der Weltunion für progressives Judentum. Es wird dasselbe Gebetbuch benutzt und alle haben sich denselben Prinzipien eines modernen Zugangs zum jüdischen Leben verschrieben.

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