Gebet & Gottesdienst

Das Gebetbuch

Es wurde einmal gesagt: Die Bibel ist die Gabe Gottes an die Menschheit; das Gebetbuch das Gegengeschenk der Menschen an Gott. Dieser Ausspruch verdeutlicht, dass das Gebetbuch ein menschliches Produkt ist, das zwar geehrt, aber nicht heilig ist. Es sollte mit Respekt behandelt werden, doch es ist offen für Änderungen. Es verdankt sich einem fortdauernden Prozess, zu dem jede Generation ihren Beitrag leisten möchte. In der Vergangenheit war dies tatsächlich so, denn das Gebetbuch hat sich im Verlauf mehrerer Jahrhunderte entwickelt. Man verfasste neue Gebete, benutzte andere Formen und es gab zahlreiche örtliche Unterschiede. Selbst die privaten Gebete haben sich verändert, wie die Amida zeigt, deren heutige übliche Form sich erst im Laufe mehrerer Jahrhunderte aus einer Vielzahl von Versionen herausgebildet hat. Die ständige Überarbeitung des Gebetbuches ist nicht nur eine historische Tatsache, sondern liegt in seinem Wesen begründet. Es handelt sich um ein lebendiges Werk, nicht um ein Museumsstück.

Ein erfolgreiches Gebetbuch hat mehrere Funktionen: Es ist der Versuch Einzelner, mit Gott in Beziehung zu treten und ein Ausdruck ihrer tiefsten Gedanken und Gefühle. Es spiegelt die Wirklichkeit des Lebens und die Alltagsprobleme der Menschen wider und hilft doch zugleich, sich über sie zu erheben und zu einer geistigen Erfüllung zu gelangen. Es ist auf Einzelpersonen ausgerichtet, doch es verbindet ihre Identität mit dem Rest der Gemeinde. Es ist ein Bekenntnis des jüdischen Glaubens und der historischen Erfahrungen und verleiht gleichzeitig der persönlichen Suche und der eigenen jüdischen Identität eine Stimme. Um diese Aufgaben zu erfüllen, muss das Gebetbuch eine Brücke sein zwischen dem großen Reservoir der jüdischen Tradition und den modernen Lebensumständen. Es muss beides verbinden, ohne den Wert des einen zu mindern oder bei der Integrität des anderen Kompromisse zu verlangen. Die Änderungen, die in den Gottesdiensten des Gebetbuches für deutschsprachige progressive Gemeinden, Seder ha-Tefillot, vorgenommen worden sind, geschahen in diesem Sinne und lassen sich in drei Bereiche unterteilen: theologisch, historisch und formal.

Theologische Charakteristika
In der Vergangenheit gab es bei der Entwicklung des Gebetbuches das Problem, dass zwar jede Generation Gebete hinzufügte, man aber zögerte, Texte wegzulassen. Dies bezog sich auch auf Gebete, die längst überholten Situationen galten und in der Gegenwart keine Bedeutung mehr hatten. In orthodoxen Synagogen wird zum Beispiel nach wie vor das Gebet für die Gelehrten in Babylon gesprochen, die es bereits seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr gibt. Der fortdauernde Wachstumsprozess ließ den Umfang des Gebetbuches stark anschwellen und die Länge der Gottesdienste nahm dementsprechend zu. Zur Zeit des Tempels dauerte der Gottesdienst vermutlich kaum eine Stunde, während er in heutigen orthodoxen Synagogen eine Länge von bis zu vier Stunden haben kann. Die Folge ist, dass viele Gebete extrem schnell gesprochen werden und viele Leute die Synagoge nur für einen Teil des Gottesdienstes besuchen, zum Beispiel erst zwei Stunden später kommen. Es ist unmöglich, sich während der gesamten Zeit zu konzentrieren und diejenigen, die später kommen, sorgen für ständige Unterbrechung und Störung. Wie einen Strauch, der allzu struppig gewachsen ist, so hat das progressive Judentum das Gebetbuch auf einen Umfang zurechtgestutzt, der der ursprünglichen Länge des Gottesdienstes eher entspricht. Der Schabbat-Morgengottesdienst dauert nun etwa anderthalb Stunden und die Gemeinde ist von Anfang bis Ende anwesend.

Der Wunsch nach der Kürzung der Gottesdienste fiel mit einem anderen Anliegen des progressiven Judentums zusammen: Die Liturgie sollte zum Ausdruck bringen, was die Gemeinde wirklich glaubt. Gebete, die heutigen Glaubensansichten völlig widersprechen, fördern Unehrlichkeit oder Gleichgültigkeit und sollten ausgelassen werden. Das Ergebnis war, dass einige Gebete entfernt wurden, wie zum Beispiel die, die sich auf den Opferkult beziehen. Ebenso änderte man Texte wie zum Beispiel einige Teile des Alenu, die eine stark negative Einstellung zu Nichtjuden ausdrücken und Epochen widerspiegeln, die von einem feindschaftlichen Verhältnis geprägt waren. Abschnitte, in denen herablassend von Frauen geredet wird, – eine wie günstige Interpretation man ihnen heute auch immer geben mag – wurden ebenso getilgt. So wurde der morgendliche Lobspruch geändert, in dem ein Mann Gott dafür dankt, dass er ihn nicht als Frau erschaffen habe. In einem Zeitalter, in dem das jüdische, israelische und deutsche Recht keine Todesstrafe kennt, wird in der zwölften Bitte der Amida nicht mehr für den Tod der Verleumder gebetet, sondern für das Ende der Verleumdung. Darüber hinaus wurden Hinweise auf die Ankunft des Messias ausgelassen oder in die Bitte um das Kommen der messianischen Zeit geändert. Dies entspricht dem Denken des progressiven Judentums besser und stellt ein Zeitalter des Friedens in den Vordergrund statt der Person eines leiblichen Messias (siehe dazu Kap II.2). Die Übersetzung des ersten Abschnittes der Amida redet nicht vom Kommen eines „Erlösers“, sondern vom Kommen der „Erlösung“ für zukünftige Generationen. Aus denselben theologischen Gründen wurden die Bezüge auf eine leibliche Auferstehung der Toten geändert (siehe dazu Kap II.4). Die Übersetzung des zweiten Abschnitts der Amida lautet nicht „Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, der die Toten belebt“, sondern: „Du schenkst Leben angesichts des Todes“. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Bezüge auf die leibliche Wiederbelebung der Toten in der Amida nur im deutschen Text geändert wurden, im hebräischen Original aber geblieben sind. Dies war ein Versuch der Herausgeber des Gebetbuches, einen vermittelnden Ausgleich zwischen der Entwicklung des modernen Denkens und der traditionellen hebräischen Form der Liturgie zu finden.

Ein anderes Prinzip, das in der Liturgie zur Geltung kommt, ist folgendes: Gebete, die mehrmals wiederholt werden, wie das Kaddisch, verlieren durch die Wiederholung an Ausdruck und Bedeutung. Deshalb werden sie nur einmal gesprochen. Gebete in Aramäisch wurden ausgelassen oder ins Hebräische übersetzt, da die meisten heutigen Juden kein Aramäisch verstehen und diese Sprache keine solche historische Bedeutung hat. Die einzige Ausnahme ist das Kaddisch, das aufgrund seines besonderen Charakters in seiner ursprünglichen Form beibehalten wurde. Die große Sammlung von Psalmen, die einen beträchtlichen Teil des orthodoxen Gottesdienstes ausmachen, wurden auf die zurückgeführt, die besonders geeignet schienen.

Außerdem wurden neue Gebete verfasst, die den besonderen Bedürfnissen unserer Generation entsprechen. Dies steht im Einklang mit der Theologie des progressiven Judentums, dass Gott zu den Menschen in jedem Zeitalter spricht und deshalb jedes Zeitalter seine Einsichten hat, die der Liturgie hinzugefügt werden können. So heißt es zum Beispiel in der Liturgie des Abendgebets für Schabbat:

Gott aller Kreatur, du hast uns zu Herrschern gemacht über deine Welt, damit wir ihr dienen, uns an ihr erfreuen und sie genießen. An sechs Werktagen haben wir Dinge gekauft und verkauft oder hergestellt; wir haben die Summe unserer berechtigten und auch unserer unnötigen Sorgen vergrößert; wir haben aber auch Erfolge erlebt und sie genossen.

Nun, an diesem Schabbat, lass uns Ruhe finden.

An sechs Werktagen haben wir uns abgemüht oder sind an der Last des Lebens fast zerbrochen. Wir haben vorgegeben, größer zu sein, als wir wirklich sind oder wir haben anderen Schmerzen zugefügt. Wir hatten keine Zeit zur Besinnung und keine Ruhe um zu erkennen, was wir zum wahren Leben wirklich brauchen.

Nun, an diesem Schabbat, lass uns Zeit finden.

An sechs Werktagen waren wir hin- und hergerissen zwischen dem, was wir wollten, und dem, was andere von uns erwartet haben, zwischen den vielen nebensächlichen Geräuschen, die in unsere Ohren drangen, und dem Gebet unserer Seele in einem Augenblick der Stille.

Nun, an diesem Schabbat, lass uns Verständnis finden und Frieden.

Hilf uns, Gott, den Ertrag von dieser Ruhe, von dieser Zeit, von diesem Verständnis und von diesem Frieden mit hineinzunehmen in die kommenden sechs Werktage und in alle unsere Arbeitstage, damit unsere Lebenszeit von dir gesegnet werde. Amen.

Es geht nicht darum, die Moderne über alles zu stellen, sondern nach dem zu suchen, was in die Moderne spricht. Deshalb wurden gleichzeitig Texte aus der Weisheit früherer Generationen eingefügt, die nie zuvor in einem Gebetbuch standen, angefangen von Bibeltexten über die rabbinische Literatur und mystische Poesie bis hin zu chassidischen Sprüchen. Sie stammen sowohl aus der aschkenasischen wie aus der sefardischen Liturgie, lassen die künstlichen Trennungen der jüdischen Vielfalt außer Acht und betonen die Einheit des jüdischen Volkes und sein gemeinsames Erbe.

Aktualität
In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich die Welt beinahe über unseren Verstehenshorizont verändert. Sie erlebte den Mord an sechs Millionen Juden. Das Unbegreifliche der Scho’ah verfolgt uns bis heute und hat Auswirkungen auf unser Leben und unsere Einstellungen. Außerdem kam es zur Wiedererichtung des Staates Israel. Ein Jahrhunderte alter Traum wurde Wirklichkeit und brachte ein wunderbares Erblühen jüdischer Identität und jüdischen Fortschritts. Das Gebetbuch – die Autobiographie des jüdischen Volkes – muss diese beiden gewaltigen Ereignisse berücksichtigen. Ein besonderes „Gedenken an die Scho’ah“ trauert um „den Geist und den Humor, der starb, um das Lernen und das Lachen, das für immer verloren ist“. Das Gebetbuch enthält verschiedene Illustrationen, vor allem von deutschen Synagogen, die durch den Nationalsozialismus oder in der darauffolgenden Zeit zerstört wurden. Diese Illustrationen dienen nicht nur zur Ausschmückung des Gebetbuches, sondern wollen die Erinnerung lebendig erhalten.

Ein Jom-ha-Azma’ut-Gottesdienst (Israelischer Unabhängigkeitstag) berücksichtigt die Gründung des Staates Israel. „Aus der Vernichtung wuchs Hoffnung, in der Dürre entsprang eine Quelle, die Steppe blühte wie die Lilie“. Zusätzlich wurde in den Schabbat-Morgengottesdienst ein neues Gebet für den Staat Israel eingefügt, das die Hoffnungen und die Sorgen, die sich mit ihm verbinden, zum Ausdruck bringt. Es bittet dafür, „dass Friede an den Grenzen des Landes herrscht und Sicherheit in den Häusern aller, die dort wohnen. Der Geist der Verbundenheit und gegenseitiges Verständnis mögen alle Wunden und Verletzungen heilen.“

Das Gebetbuch berücksichtigt darüber hinaus eine weitere Veränderung des jüdischen Lebens: die Ablösung eines Zeitalters des Glaubens durch ein säkulares Zeitalter, in dem die Religion in Frage gestellt und umstritten ist. Auch das Gebet selbst, das früher etwas Selbstverständliches war, ist heute für viele Menschen problematisch. Das Gebetbuch berücksichtigt diese Situation:

Es gibt Zeiten, in denen es schwer ist, dich zu hören und es gibt Zeiten, in denen es schwer ist, dir zu folgen. Ich weiß: Dies ist ein Verlust für mich. In der Stille dieses Schabbats richte ich meine Gedanken auf dich. Hilf mir, deine Stimme zu hören, dein Bild in meiner Seele zu finden und Frieden zu haben.

Gebete wie dieses lassen solche Unsicherheiten zu und ermöglichen all denen, die so empfinden, innerhalb des religiösen Rahmens zu bleiben. Ein anderes Gebet in der Liturgie für die Hohen Feiertage berücksichtigt auch diejenigen, die mit Fragen vor Gott treten:

Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint,
ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spür’,
ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.

Formale Charakteristika
Jede Liturgie kann darunter leiden, wenn Gebet zur Routine wird und mechanisch abläuft. Um Variationen zu ermöglichen, werden an mehreren Stellen im Gebetbuch alternative Texte angeboten, die durch römische Ziffern abgesetzt sind. Es bleibt jeder Gemeinde überlassen, wie sie diese Alternativen benutzt. Ebenso frei ist die Entscheidung jeder einzelnen Gemeinde, welche Gebete gesungen, gemeinsam oder im Wechsel gesprochen oder leise gelesen werden. Jede Gemeinde hat ihren eigenen Minhag („Brauch“). Ein weiterer formaler Unterschied ist, dass das progressive Gebetbuch mit den Schabbatgottesdiensten beginnt, im Unterschied zum orthodoxen Gebetbuch, in dem zuerst die Wochentagsgottesdienste stehen. Dies berücksichtigt die Tatsache, dass für die meisten Jüdinnen und Juden das gemeinsame Gebet am Schabbat stattfindet. Die häuslichen Gebete und die Wochentagsgebete sind natürlich ebenfalls eingeschlossen, sowie eine große Anzahl von Gebeten, die sich auf besondere Umstände beziehen: Gebete für eine Reise, während einer Krankheit und vor einer Operation. Gänzlich neu ist ein Gebet für einen wichtigen Jahrestag (sei es ein Geburtstag oder der Hochzeitstag), für den es keine offizielle Feier in der jüdischen Tradition gibt. Ein Teil dieses Gebets lautet:

Heute komme ich zu dir mit meinen ganz persönlichen Erinnerungen. Ich danke dir für die Erfahrungen, die ich gemacht habe, und für alle Begleitung und Liebe, die ich erlebt habe. Was auch immer die Zukunft bringen wird, möge dieser Tag stets meinen Geist erneuern und mir Freude auf meinem Lebensweg schenken.

Dieses Gebet kann an dem Schabbat in der Synagoge gelesen werden, der dem Ereignis am nächsten liegt. Es kann auch privat gebetet werden.

Unter den Neuerungen, die auf die Wirklichkeit des modernen jüdischen Lebens Bezug nehmen, befindet sich ein Gebet für Sitzungen des Vorstandes. Es schafft einen religiösen Augenblick in den ansonsten sehr säkularen Angelegenheiten der Gemeindeorganisation:

Wir wollen einander mit Achtung zuhören und weise und großzügig miteinander umgehen. Dadurch bezeugen wir, wem wir dienen und zeigen uns der Erwählung Gottes würdig. Möge keine unserer Auseinandersetzungen aus Ehrgeiz und Selbstverwirklichung so aufwallen wie die des Korach, sondern alle unsere Auseinandersetzungen sollen um Gottes Willen geführt werden wie die von Hillel und Schammai.

Es wurde ein besonderes Gebet für interreligiöse Begegnungen verfasst und ein Gebet um internationale Verständigung. Beide bringen die Bemühungen um religiöse und politische Einmütigkeit in der Welt zum Ausdruck.

Das Gebet in der Landessprache
Wenn Gebet eine Bedeutung haben soll, muss es vom Betenden verstanden werden. Die Forderung, alle Juden sollten in der Lage sein, Hebräisch zu lesen und zu verstehen, ist ein löbliches Ideal, das progressive Rabbiner von ganzem Herzen unterstützen. Aber es entspricht nicht der Realität. Viele Juden können kein Hebräisch und selbst wenn einige Kenntnisse vorhanden sind, reichen sie oft nicht aus, um etwas zu verstehen. Ein Gottesdienst, der nur in Hebräisch stattfindet, führt dazu, dass Gebete mechanisch gesprochen werden und viele Gottesdienstbesucher sich gänzlich ausgeschlossen fühlen. Es ist deshalb sinnvoll, Gebete in der Landessprache einzufügen um Juden das Gefühl zu geben, sich in einer Synagoge zuhause zu fühlen. Diese „Neuerung“ ist in Wirklichkeit lediglich eine Rückkehr zu einer viel älteren Tradition. Bereits in biblischer Zeit gab es Übersetzungen der Thoralesungen, als Menschen, die aus Babylon zurückkehrten, nicht mehr mit dem Hebräischen vertraut waren (Nehemia 8,8). Da das Aramäische als Umgangssprache gebräuchlicher war als Hebräisch, erlaubten die Rabbinen der Mischna und des Talmud, dass das Sch’ma, die Amida und Birkat ha-Mason in der Landessprache rezitiert werden dürfen (Sota 7,1; 32b). Diese Entscheidung wurde von anderen Instanzen bestätigt, die vorschlugen, dass die privaten Gebete in Hebräisch gesagt werden sollten und die öffentlichen in der Landessprache (Schulchan Aruch, Orach Chajjim 101,4) – entgegen der modernen orthodoxen Sitte, die das umgekehrte empfiehlt. Man sollte auch nicht vergessen, dass die bekanntesten Teile der Liturgie ursprünglich in Aramäisch verfasst worden waren, wie das Kaddisch, das Kol Nidre und Chad Gadja. Im heutigen Israel, wo jeder Hebräisch versteht, halten progressive Synagogen den Gottesdienst vollständig in der Landessprache.

Seder ha-Tefillot, das Gebetbuch der progressiven Gemeinden, bietet auf der einen Seite den hebräischen Text, auf der gegenüberliegenden Seite eine Übertragung ins Deutsche. Der deutsche Text kann von allen zum persönlichen Gebrauch benutzt werden. Genauso wird er im öffentlichen Gebet verwendet. Jede Gemeinde hat ihren eigenen Brauch, sowohl was das Verhältnis von deutscher und hebräischer Sprache im Gottesdienst betrifft als auch welche Gebete in Deutsch und welche in Hebräisch gesprochen werden. Viele Synagogen vermeiden eine festgelegte Routine und wechseln die Gebetssprache. Auf diese Weise fördern sie sowohl die Vertrautheit mit dem hebräischen Text als auch mit seiner Bedeutung. Dennoch werden in vielen Fällen die bekanntesten Gebete regelmäßig in Hebräisch gesprochen, das Barchu, das Schema, die Amida und das Alenu. Die dazwischen stehenden Abschnitte und die Psalmen werden häufig auch in Hebräisch gesagt. Lieder werden heutzutage gewöhnlich in Hebräisch gesungen, obwohl gerade das 19. Jahrhundert eine Fülle von deutschen Fassungen vertont hat.

Auch wenn das progressive Judentum an dem Standpunkt festhält, dass die deutsche Sprache im Gottesdienst erlaubt und hilfreich ist, beharrt es ebenso darauf, dass das Hebräische beibehalten werden muss. Das Hebräische ist die Sprache, in der das Gebetbuch und ein großer Teil der jüdischen Literatur verfasst wurden. So weit es möglich ist, sollte man daher das Original lesen. Es ist die Sprache der Bibel und der Kinder Israels und hat von daher eine besondere Bedeutung. Es ist die Sprache des modernen Israel, das jetzt das Zentrum der jüdischen Welt ist, und erlebte eine Wiederbelebung, die die antike Sprache mit dem modernen Leben verband. Es ist eine universale Sprache, die alle Juden verbindet und damit auch ein Band zwischen Menschen knüpft, die in völlig verschiedenen Kulturkreisen leben, obwohl sie ein gemeinsames Erbe teilen. Deshalb ist es wichtig, alle Mühe darauf zu verwenden, das Hebräische zu fördern. Im progressiven Religionsunterricht werden neue Methoden angewandt, damit Kinder die Sprache schneller lernen, und in vielen progressiven Synagogen werden Hebräischkurse für Erwachsene angeboten. Das Verständnis gilt als ebenso wichtig wie die Fähigkeit zu lesen.

Die Sprache der deutschen Übersetzung ist eine moderne Umgangssprache, denn man kann am besten in der Sprache beten, in der man denkt. Es wurden jedoch Klischees und Modewendungen vermieden und auf einen natürlich fließenden Stil geachtet. Berücksichtigt wurde ferner, dass viele Gebete gemeinsam gesprochen werden. Von daher war es nötig, einen gewissen Rhythmus der Sprache zu schaffen. An einigen Stellen gründet sich die Übersetzung auf theologische Überlegungen und gibt das Hebräische nicht wörtlich wieder. So lautet zum Beispiel der Lobspruch am Ende des zweitens Abschnitts der Amida: „Du schenkst Leben angesichts des Todes“, was dem Hebräischen nicht exakt entspricht, aber mehr im Einklang steht mit der modernen Deutungsbreite dieser Aussage.

Hinzu kommt ein besonderer Aspekt der Übersetzung und des hebräischen Textes. Gebetbücher wurden bisher von Männern verfasst, die für andere Männer schrieben. Die verwendeten Bilder sind maskulin orientiert. Dennoch sind 50% derjenigen, die das Gebetbuch benutzen, Frauen. Viele von ihnen finden sich in einer exklusiv männlich ausgerichteten Sprache nicht wieder. Man kann zwar sagen, dass maskuline Begriffe oft neutral und allgemein sein sollen, so wie das Wort „jedermann“, doch viele empfinden die maskulinen Formen als exklusiv. Es geht nicht um eine feministische Mode, sondern um das allgemeine Bewusstsein innerhalb der Gemeinde, dass die Liturgie alle einschließen sollte, die sie beten. Von daher ist die deutsche Übersetzung bemüht, eine inklusive Sprache zu verwenden, die niemanden ausschließt. So wird das hebräische Wort awotenu an den Stellen, wo es als allgemeine Bezeichnung für die Ahnen verwendet wird, nicht mit „unsere Väter“, sondern mit „unsere Vorfahren“ übersetzt. An den Stellen, wo es sich eindeutig auf die Erzväter bezieht, werden die Erzmütter ergänzt, wie im ersten Abschnitt der Amida, der auch die Namen der Matriarchen Sara, Rebekka, Rahel und Lea berücksichtigt.

Das Prinzip, einer einseitig maskulinen Sprache auszuweichen, wird auch bei den Aussagen über Gott angewendet. Dies steht im Einklang mit der traditionellen Sicht, dass Gott unkörperlich und geschlechtslos ist. Dennoch gab es stets die Tendenz, maskuline Bilder zu benutzen. Dies ist ungerechtfertigt, oft auch eingrenzend. Die zeitgenössische progressive Liturgie verwendet deshalb neutrale Begriffe. Bei einem Gebet wie dem ersten Abschnitt der Amida werden z.B. Partizipien oder Substantive für den Lobpreis Gottes verwendet werden. Da Gott aber zu Beginn in der zweiten Person angeredet wird, erschien es möglich, statt der maskulinen dritten Person die zweite Person zu verwenden, die im deutschen inklusiv ist. So heißt es statt: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, … großer, starker und ehrfurchtweckender Gott, höchster Gott, der Wohltaten tut, der …“ nun: „Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter und Mütter, … Du bist groß und mächtig. Dir gebührt unsere Ehrfurcht. Du bist über alles erhaben. Du vollbringst Wohltaten. …“ Diese Übersetzung lässt Raum für verschiedene Gottesbilder. Für die Übersetzung des Gottesnamens war es äußerst schwierig, eine neutrale Wiedergabe zu finden, deshalb wurde die üblich gewordene Übersetzung „der Ewige“ beibehalten, obwohl es eine maskuline Form ist. Vielleicht finden sich in der Zukunft bessere Lösungen. Ebenso wurden Bilder, die an einem maskulinen Gott orientiert sind, zum Beispiel König oder Vater, in der Übersetzung oft umschrieben. In allen diesen Fällen blieb die Bedeutung des Originals erhalten, doch das Geschlechterproblem ist entschärft. Einige Menschen werden Wendungen vermissen, die ihnen vertraut waren. Doch war es wichtig, eine Sprache zu finden, die allen gerecht wird.

Gleichberechtigung von Mann und Frau
Ein wichtiges Prinzip des progressiven Judentums ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Es geht nicht darum, Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu leugnen. Tatsache ist aber, dass diese Unterschiede für die Religionsausübung ohne Bedeutung sind. In einem Zeitalter, in dem Frauen führende Positionen im öffentlichen Leben haben und Staatsoberhäupter sein können, ist nicht nachvollziehbar, wieso die Synagoge ihnen ihre vollen Rechte vorenthalten sollte.

In einer progressiven Synagoge gibt es deshalb keine Frauenempore oder eine Trennung zwischen den Geschlechtern wie in einer orthodoxen Synagoge. In einem progressiven Gottesdienst sitzen Männer und Frauen nebeneinander. In vielen progressiven Synagogen leiten auch Frauen die Gebete, vollbringen Mitzwot und werden zur Lesung der Thora aufgerufen. Wenn ein Minjan beachtet wird, werden Frauen in darin eingeschlossen. Als voll berechtigte Gottesdienstteilnehmerinnen haben sie die Gelegenheit, während einer der zahlreichen Prozessionen an Simchat Thora eine Thorarolle zu tragen. (Es ist eine gängige, aber falsche Annahme, Frauen dürften die Thora nicht berühren, weil sie sie aufgrund ihres Menstruationszyklus „verunreinigen“ könnten. Selbst nach der strengsten Interpretation ist dies nicht der Fall. Die Heiligkeit der Rolle schließt es aus, dass sie je „unrein“ gemacht werden könnte [Berachot 22a]. Die Rolle kann nur dann unbrauchbar werden, wenn Buchstaben beschädigt sind oder ein Fehler im Text entdeckt wird.) Die Bat-Mitzwa-Zeremonie für Mädchen findet in derselben Form statt wie die Bar-Mitzwa der Jungen. Die Trauung sieht für Frauen die gleiche Beteiligung vor wie für Männer. Frauen können Rabbinerinnen werden und als Amtsträgerinnen in progressiven Gemeinden gewählt werden. Diese Entwicklungen gelten nicht als Zugeständnisse, sondern als das natürliche Recht von Frauen, das ihnen jedoch von früheren Generationen vorenthalten wurde. Sie sind Teil einer vollständigen Neubewertung der Rolle der Frau und entstammen dem Wunsch, die Nachteile zu beheben, unter denen sie in früheren Zeiten zu leiden hatten. In Statusfragen, zum Beispiel im Scheidungsprozess, werden die Rechte der Frauen beachtet. Verwitwete oder geschiedene Frauen sind befreit von der Belastung, eine Aguna zu sein, eine Chaliza erleben zu müssen bzw. von keinem Kohen geheiratet werden zu dürfen. Sie gelten in rechtlichen Angelegenheiten als vollständig kompetent und können daher zum Beispiel als Zeuginnen auf einer Ketuba fungieren.

Keine dieser Neuerungen findet sich in orthodoxen Synagogen, obwohl es deutlich ist, dass Frauen in früheren Jahrhunderten eine viel aktivere Rolle im religiösen Bereich hatten als heute. Der Talmud erklärt zum Beispiel, dass unter den sieben Personen, die während des Schabbatgottesdienstes für die Thoralesung zur bima gerufen werden, auch eine Frau sein kann, doch er legt nahe, dies aus „Respekt vor der Gemeinde“ zu unterlassen (Megilla 23a).

Die religiöse Beteiligung von Frauen wurde in den folgenden Jahrhunderten durch zwei rabbinische Entscheidungen eingeschränkt. Die eine war die Bestimmung, dass Frauen von den Geboten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt befolgt werden müssen, ausgenommen sind. Dies betrifft zum Beispiel das Anlegen der Tefillin oder den Aufenthalt in der Sukka (Kidduschin 1,7). Der praktische Grund für diese Bestimmung war, dass für Frauen mit kleinen Kindern oft die Bedürfnisse ihrer Kinder über den religiösen Pflichten standen. Doch dies betrifft nicht alle Frauen zu jeder Zeit. Viele Frauen haben keine Kinder oder ihre Kinder sind erwachsen. Die Ausnahme war ursprünglich kein Verbot, doch sie bekam diesen Charakter mit der Folge, dass Frauen nie aktiv am Gemeindeleben teilnahmen. Das, was ursprünglich zu ihrem Wohl gedacht war, wurde eine Einschränkung. Die andere Regelung betrifft das Studium der Thora. Es war Frauen zwar erlaubt, sie waren aber nicht dazu verpflichtet (Sota 3,4). Dies führte zu einer allgemeinen Vernachlässigung der Ausbildung von Frauen, einschließlich der Vermittlung von Hebräischkenntnissen, so dass sie oft nicht in der Lage waren, dem Gottesdienst zu folgen. Die Rolle der Frau in der Synagoge wurde unvermeidlich eine passive, auch ohne eigentliches Verbot einer größeren Beteiligung. Wenn orthodoxe jüdische Frauen von ihren Rabbinern das Recht einklagen, Gebete zu leiten und aus der Thora zu lesen, wird ihnen dies nur in Gottesdiensten gewährt, an denen ausschließlich Frauen teilnehmen. Als Entschädigung für die eingeschränkte Rolle in der Synagoge erklären orthodoxe Instanzen oft, Frauen hätten im Haushalt die Oberhand und daher sei der Ausgleich zwischen den Geschlechtern gewährleistet. Doch dies ist nicht wahr, denn die meisten häuslichen Rituale, – Kiddusch, Hawdala, das Tischgebet nach dem Essen –, bleiben normalerweise das Gebiet des Mannes und alle Entscheidungen über häusliche Bräuche werden unvermeidbar dem scheinbar überlegenen Wissen von Männern überlassen. Damit soll nicht gesagt werden, dass Frauen nicht eine sehr geschätzte und geehrte Rolle auch im orthodoxen jüdischen Leben einnehmen würden. Im Gegenteil, sie werden in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter sowohl in der Bibel als auch in der rabbinischen Literatur hoch geschätzt. Das progressive Judentum hat ihre niedrige Stellung in religiösen Angelegenheiten lediglich auf die gleiche Ebene gehoben wie ihre hohe Position in der Familie. Die neuen Rechte bedeuten jedoch auch neue Pflichten. Man erwartet von Frauen in progressiven Synagogen, dass sie wie die Männer die Gebote halten, einschließlich derjenigen, die an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden sind.

Für jemanden, der zum ersten Mal an einem Gottesdienst in einer progressiven Synagoge teilnimmt, wird die Tatsache, dass Frauen und Männer nicht voneinander getrennt sitzen, vielleicht ein merkwürdiges Gefühl auslösen. Doch die anfängliche Überraschung wird sich schnell legen. Es erscheint bald als vollkommen logisch und normal. Doch hat es einen tiefen Einfluss auf das Gemeindeleben und betrifft nicht nur die Frauen selbst, sondern auch den Rest der Familie. Ein offenkundiges Ergebnis ist, dass die typische Frauenriege oben oder hinten in der Synagoge, in der niemand am Gottesdienst interessiert ist und sich alle munter miteinander unterhalten, in progressiven Synagogen fehlt. Stattdessen stehen Frauen und Männer gleichermaßen vor dem heiligen Schrein. Sie fühlen sich dadurch erheblich mehr am Gottesdienst beteiligt (und um einiges höher bewertet) und reagieren entsprechend. Dies hat zur Folge, dass Frauen nun ebenso gut über das Leben in der Synagoge Bescheid wissen wie Männer und ebenso vertraut mit dem Hebräischen sind wie diese. Die Ausbildung der Mädchen im progressiven Religionsunterricht ist genau dieselbe wie die der Jungen, damit sie eine aktive Rolle in der Synagoge einzunehmen können. In den Kursen für Erwachsene finden sich oft Frauen mit orthodoxem Hintergrund, die dies alles in ihrer Kindheit nie gelernt haben. Dass in den Kursen mehr Frauen als Männer sind, zeigt den Wunsch der Frauen, jüdisches Wissen nun auch vermittelt zu bekommen. Ein wachsender Prozentsatz an Frauen, die in ihrer Kindheit keine Bat-Mitzwa erlebt haben, holt dies jetzt als Mitglieder von progressiven Synagogen nach. Sie haben den Eindruck, dass ihnen dies als Teil ihres jüdischen Erbes gefehlt hat. Sie lernen aus der Thora zu lesen und werden zur öffentlichen Lesung aufgerufen.

Die Gleichheit der Frauen bezieht sich auf alle Bereiche des Gemeindelebens. Kein Arbeitsfeld der Synagoge ist auf ein bestimmtes Geschlecht begrenzt. Viele Frauen sitzen im Vorstand, arbeiten als Vorsteherinnen oder als Gemeindevorsitzende. Andererseits sind in Hilfskommittees nach wie vor die überwiegende Mehrheit Frauen, obwohl diese auch offen für Männer wären.

Die wachsende Teilnahme von Frauen hatte auch Auswirkungen auf ihre Ehemänner. Viele von ihnen besuchen die Gottesdienste, wenn sie neben ihren Frauen sitzen können. Familien, die es gewohnt sind, zuhause zu beten, finden es nur natürlich, dies auch in der Synagoge zu tun. Die starke Beteiligung von Frauen kann auch einen positiven Effekt auf die Kinder haben. Sie sehen, dass beide Eltern ihr Judentum ernsthaft leben. Hinzu kommt, dass eine Mutter, die Einblicke in den Alltag der Synagoge und jüdisches Wissen hat, eine sehr viel bessere Erziehung der Kinder gewährleisten kann. Dies betrifft vor allem die Mädchen, deren Rollenvorbild die Mutter ist und deren Formen des jüdisches Lebens oft übernommen werden, wenn sie selbst Mütter sind.

Kleidung als Symbol
Die meisten Formen ritueller Bekleidung galten traditionellerweise nur Männern. Die Ursache ist, dass nur Männer verpflichtet sind, die Gebote zu halten, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt ausführen muss, Frauen von dieser Verpflichtung jedoch befreit wurden (Kidduschin 1,7). Das heißt, Frauen war das Tragen von Tallit und Tefillin auf freiwilliger Basis möglich. Sie konnten diese Kleidungsstücke tragen oder auch nicht, je nach Belieben der betreffenden Frau. Doch wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, entwickelte sich die Ausnahme in ein scheinbares Verbot und in einer orthodoxen Synagoge wäre es etwas Unerhörtes, wenn eine Frau Tallit oder Tefillin tragen würde. Das progressive Judentum kehrte zur ursprünglichen Position des Judentums zurück: Die rituelle Kleidung kann von Männern und Frauen gleichermaßen getragen werden. In Europa (anders als in den USA) ist das Erscheinungsbild von Frauen, die den Tallit in der Öffentlichkeit tragen, ein noch recht junges Phänomen. Es ist überdies wichtig, das Anlegen von ritueller Bekleidung nicht überzubewerten und absolut zu setzen. Für Mann und Frau ist dieser Brauch keine Verpflichtung. Uns ist aber dennoch eines bedeutsam: es als eine Möglichkeit aufzuzeigen und diejenigen zu ermutigen, die es tun möchten.

Arba Kanfot
Das biblische Gebot, an den vier Ecken des Gewandsaumes Zizit („Quasten“) zu tragen (Numeri 15,38 [Schelach Lecha]; Deuteronomium 22,12 [Ki Teze]) setzt voraus, dass man ein viereckiges Kleidungsstück trägt. Als diese Kleidung unüblich wurde, führten die Rabbinen die Arba Kanfot (eine viereckige Weste) oder den Tallit qatan (kleiner Überwurf) ein, um das Gebot, Zizit zu tragen, zu erfüllen. Streng genommen wäre es nicht nötig, die Arba kanfot zu tragen, da das Gebot lautet, die Zizit zu tragen, wenn man ein viereckiges Kleidungsstück als Oberbekleidung trägt. Es ist ein zusätzlicher Ausdruck der Frömmigkeit für diejenigen, die dies möchten. Dennoch wird es in orthodoxen Gemeinden als verpflichtend angesehen. Das progressive Judentum überlässt die Entscheidung der Wahl der Einzelnen. Die Mehrheit der progressiven Juden trägt keine Arba kanfot, doch für einzelne ist dieser Brauch von Bedeutung und sie tragen sie täglich. Da man dieses Kleidungsstück bis zum Einbruch der Nacht anbehält, kann es den ganzen Tag hindurch ein jüdisches Bewusstsein fördern.

Tallit
Die Arba kanfot sind eine unauffällige Art und Weise, die Zizit während der Woche zu tragen. In den Schabbatgottesdiensten wurde ein öffentlicheres und prachtvolleres viereckiges Kleidungsstück üblich, der Tallit. Ursprünglich deutete er eine Robe an, doch schon recht bald entwickelte er sich zu einem „Gebetsschal“. Innerhalb der Orthodoxie entstand eine Vielzahl von Traditionen über seinen Gebrauch: Es gibt verschiedene Sitten. In einigen orthodoxen Gemeinden tragen ihn alle Männer ohne Rücksicht auf das Alter, in anderen nur Männer, die älter als 13 Jahre sind, in wieder anderen nur verheiratete Männer. Einige bevorzugen einen blau-weißen Tallit aus Seide (der sefardische Brauch), andere einen schwarz-weißen aus Wolle (der aschkenasische Brauch). Aus dem Talmud geht deutlich hervor, dass auch Frauen einen Tallit tragen dürfen und dass sie dies zur damaligen Zeit taten (Menachot 43a). Doch weil sie davon ausgenommen waren, Gebote zu erfüllen, die sich auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen, bürgerte es sich ein, dass sie keinen Tallit trugen.

In progressiven Synagogen ist es im Allgemeinen üblich, dass Männer über 13 den Tallit tragen, während Jungen unter 13 oft dazu neigen, es zu tun. Auch Frauen dürfen den Tallit tragen, doch es bleibt ihrer persönlichen Entscheidung überlassen. Es gibt progressive Gemeinden, in denen Frauen ermuntert werden, einen Tallit zu tragen, wenn sie eine Mitzwa erfüllen, zum Beispiel den Thoraschrein öffnen oder aus der Thorarolle lesen. Die Zahl der Frauen in europäischen progressiven Synagogen, die einen Tallit tragen, nimmt zu, dennoch ist es zur Zeit noch eine Minderheit. Viele hatten es bereits lange Zeit für sich erwogen, doch der entscheidende Wendepunkt in Europa war erst das Vorbild von britischen Rabbinerinnen, die in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren ordiniert wurden und nicht nur selbst einen Tallit trugen, sondern auch andere Frauen in der Gemeinde dazu ermutigten es zu tun, um tiefer in ihr religiöses Erbe einzudringen. Der folgende Erfahrungsbericht zeigt, dass es beim Tragen des Tallit nicht um eine Form von Feminismus geht, sondern um eine Neuentdeckung des Judentums:

Es hat lange Zeit gedauert, bevor ich in der Lage war, einen Tallit zu tragen. Ich denke, einer der Hauptgründe lag darin, dass ich als Teenager Mitglied einer orthodoxen Gemeinde gewesen bin. Ich ging jede Woche zur Schul und schaute oben vom Balkon hinunter auf die glücklichen Jungs, die sich aktiv am Gottesdienst beteiligen durften. Der Gedanke, dass auch ich dies eines Tages tun könnte, war mir nie gekommen. Ich kannte meinen Ort.

Einige Wochen lang brachte ich am Schabbatmorgen meinen Tallit mit zur Synagoge. Ich hielt ihn ängstlich umklammert, drückte ihn an mich, brachte es aber nicht fertig, ihn anzuziehen.

Dann fing ich an, den Tallit zu tragen – als Ausdruck der Zugehörigkeit und der Teilhabe an der Gemeinde, um eine Stellung als gesundes und positives Mitglied der Kehilla („Gemeinde“) zu behaupten. Ich begann, ihn als einen Umhang der Verantwortung mit Stolz und Freude anzuhaben. Im Laufe der sieben Jahren, die ich ihn nun anziehe, hat er verschiedene Dinge für mich symbolisiert. Den Tallit in einer Gemeinschaft mit anderen zu tragen bedeutet, die Einheit sichtbar zu machen, die Sorge über die Kleidung zu verlieren, mit seiner einzelnen Stimme in einem Ganzen zu verschmelzen. Er symbolisiert ein Zusammenkommen von Geist und Körper zur Einheit des Gebets, einen Verlust des Ego. Mich in einen Tallit zu hüllen hilft mir, mich zu konzentrieren. Während des Gottesdienstes ist er eine ständige Erinnerung an den Sinn meines Lebens. Der Tallit ist wie eine Hülle, die eine tiefe Veränderung von innen heraus bewirkt, während ich mich von der äußeren Welt trenne. Es gibt mir ein besonderes Gefühl, das allen möglich sein kann, die ihn mit wahrer Kawana („Andacht“) tragen, völlig unabhängig vom Geschlecht des Menschen, der ihn trägt.

Angesichts dieser allmählichen Entwicklung kann es in der Gegenwart sehr angemessen sein, einem Mädchen einen Tallit zu seiner Bat-Mitzwa zu schenken.

Seit einigen Jahren ist es möglich, einen bunten Tallit mit anderen Farben als blau oder schwarz zu kaufen, zum Beispiel jene farbenfrohen, die in Amerika und Israel hergestellt werden. Es ist möglich, sie in der Synagoge zu tragen, denn ein Tallit ist lediglich ein viereckiges Kleidungsstück mit Quasten an jeder Ecke. Die Farbe ist ohne Bedeutung. Progressive Rabbiner tragen zu ihrer Robe eine schalartige schmale Version des Tallit, die reich bestickt sein kann. Dieser Brauch geht in die Anfänge des progressiven Judentums zurück. Ein solcher Tallit wird Atara genannt.

Tefillin
Das Tragen der Tefillin gründet sich auf Deuteronomium 6,8 [Waetchanan], einen Text, der später zum ersten Abschnitt des Sch’ma wurde: „Du sollst sie [die Worte Gottes] als Zeichen um dein Handgelenk binden. Sie sollen als Merkzeichen auf deiner Stirn sein.“ Man verstand dies wörtlich und fertigte Gebetskapseln aus Leder an, die die betreffenden Texte aus der Thora enthalten und am linken Arm – bei Linkshändern am rechten Arm – und auf der Stirn getragen werden. Sie werden traditionell nicht am Schabbat und an Festtagen umgebunden, sondern nur in den Morgengottesdiensten der normalen Wochentage und nur von Männern, die über dreizehn Jahre alt sind.

In progressiven Gemeinden gilt das Tragen der Tefillin nicht als Pflicht und viele ziehen die Deutung vor, die erstmals Samuel ben Meyer im 12. Jahrhundert vorschlug: Die Verse sind im übertragenen Sinn zu verstehen. Sie bedeuten, die Taten des Menschen und sein Blick sollten stets von den Vorschriften der Bibel geleitet sein. Doch das Anlegen der Tefillin steht allen als Möglichkeit offen – allen, die älter sind als dreizehn, auch Frauen. Diejenigen, die Tefillin legen möchten, aber zu einer Gemeinde gehören, in der kein tägliches Morgengebet angeboten wird, können es tun, wenn sie die Gebete für sich alleine zuhause sprechen. Seder ha-Tefillot bietet eine Meditation vor dem Anlegen der Tefillin und die entsprechenden Lobsprüche. Sowohl die Theorie wie auch die Praxis des Tefillinlegens werden als Teil des jüdischen Wissens im Religionsunterricht gelehrt.

Scha’atnes
Das Verbot, Kleidung zu tragen, die sowohl Wolle wie Leinen enthält, wird aus der Bibel abgeleitet (Levitikus 19,19 [Kedoschim]; Deuteronomium 22,11 [Ki Teze]), hat aber keinen klar erkennbaren Sinn. Einige Kommentatoren versuchten, eine Erklärung dafür zu geben. Maimonides zufolge hatte es den Sinn, die Praxis der heidnischen Priester zu meiden. Nachmanides zufolge sei ein Gemisch aus Wolle und Leinen ein Sakrileg, da es scheint, als könne man Gottes Schöpfung noch überbieten. Letztlich gilt Scha’atnes traditionell als ein Gesetz, das erst in der messianischen Zeit verstanden werden wird. Im progressiven Judentum wird es als ein Gebot betrachtet, das in biblischer Zeit einen Sinn hatte, heute aber jede Bedeutung verloren hat und deshalb nicht beachtet zu werden braucht.

Kopfbedeckung
Die Kopfbedeckung wird an letzter Stelle erwähnt. Obwohl dies die bekannteste jüdische Sitte ist, ist sie die einzige, die sich nicht auf ein biblisches Gebot gründet. In der Bibel ist für bestimmte einzelne Situationen belegt, zum Beispiel als Teil der priesterlichen Kleidung (Exodus 28,4 [Tezawe]) oder als Zeichen der Trauer (2. Samuel 15,30). In talmudischer Zeit wurde diese Sitte auf Männer während der Zeit ihres Gebets bezogen, doch noch immer galt sie lediglich als eine Möglichkeit (Nedarim 30b; Schabbat 118b; Berachot 60b). Mit der Zeit wurde es für die Person, die den Gottesdienst leitete, üblich, den Kopf zu bedecken, später für alle, die Gebete sprachen und noch später wurde die Sitte so ausgeweitet, dass der Kopf ständig bedeckt sein sollte. Die klassische Reform hat an diesem Brauch ursprünglich nicht festgehalten. Als Zeichen der Ehrfurcht folgte man der Umwelt, die gerade umgekehrt das Haupt entblößte. Noch heute gibt es in Amerika einige progressive Synagogen der klassischen Reform, in denen keine Kopfbedeckung üblich ist. Seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts gibt es aber eine deutliche Trendwende, die durch die siebziger Jahre erhebliche Nahrung erhielt. Seitdem setzt sich die Kippa als identitätsstiftendes Accessoire auf breiter Front durch. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange wir uns darüber im Klaren sind: nicht was wir tragen, bestimmt die Qualität unseres Gebetes, sondern mit welcher Kawana wir uns zu Gott wenden. Wenn eine Kopfbedeckung zu dieser Konzentration beiträgt, ist sie ein sinnvolles Hilfsmittel.

Der Brauch, dass eine verheiratete Frau ihren Kopf bedeckt, stammt aus biblischer Zeit (Numeri 5,18 [Nasso]) und galt als Zeichen der Demut, damit sie auf andere Männer nicht attraktiv wirkt. An diesem Brauch halten orthodoxe Gemeinden bis heute fest. Hier tragen Frauen nach ihrer Hochzeit entweder ständig einen Scheitl (Perücke) oder ein Tichl (Kopftuch). Von Frauen, die ihren Kopf nicht die ganze Zeit bedecken, erwartet man, dass sie in einer orthodoxen Synagoge einen Hut oder ein Tuch tragen.

Innerhalb des progressiven Judentums wird die Frage der Kopfbedeckung unterschiedlich gehandhabt. Es gibt einige progressive Gemeinden, in denen sie nicht üblich ist. In vielen Gemeinden ist sie nur während des Gebets innerhalb und außerhalb der Synagoge üblich. Einige bedecken ihren Kopf auch dann, wenn sie einen heiligen Text studieren. Die Kopfbedeckung wird in keinem Zusammenhang mit dem ehelichen Status einer Frau gesehen. Frauen sind nicht verpflichtet, nach ihrer Heirat eine Kopfbedeckung zu tragen, weder allgemein noch in der Synagoge. Stattdessen steht die Kopfbedeckung in der Synagoge als Möglichkeit für alle Frauen offen, unabhängig von ihrem Alter und gesellschaftlichen Status. Die Folge ist, dass einige Frauen (eine kleine, aber stetig wachsende Zahl) sich entscheiden, während des Gebets eine Kippa zu tragen oder eine andere Form der Kopfbedeckung, die sie speziell für die Gebetszeiten bereithalten. Der Grund, warum Frauen ihren Kopf bedecken, hat sich also gewandelt. Es ist nicht mehr ein Zeichen der Demut, sondern ein Akt der Ehrfurcht, ähnlich dem Verhalten der Männer. Wieder war es der Einfluss der Rabbinerinnen, von denen die meisten eine Kopfbedeckung tragen, die diese neue Entwicklung hat aufkommen lassen.

Zur Kleidung im Allgemeinen
Die biblische Vorschrift „Eine Frau darf keine Männerbekleidung tragen und ein Mann darf nicht die Gewänder einer Frau anziehen“ (Deuteronomium 22,5 [Ki Teze]) wurde von der Orthodoxie auf alle Formen der Kleidung bezogen und schließt das Verbot von geschlechtsneutraler Kleidung ein. Im progressiven Judentum ist es dagegen erlaubt, geschlechtsneutrale Kleidung zu tragen und es gibt keine Bedenken, wenn Frauen Hosen tragen. Hinzu kommt, dass das progressive Judentum die Vorstellung nicht teilt, jedes Fleckchen Haut müsse bedeckt werden, worauf in einigen orthodoxen Kreisen bestanden wird. Freilich gibt es ein gewisses Maß an Anstand, auf das man bei der Kleidung achten sollte.

Lesungen im Gottesdienst
In den wöchentlichen Lesungen an den Schabbatvormittagen wird in heutigen orthodoxen Gemeinden im Laufe eines Jahres die gesamte Thora gelesen. Dies bedeutet jedoch, dass man an jedem Schabbat mehrere Kapitel rezitieren muss. Deshalb wird der Text meist in einem sehr hohen Tempo gelesen. Selbst für die, die Hebräisch können, ist es schwer, zu folgen. Die Lesung dauert ihre Zeit und kann für die Gemeinde langweilig werden. Man verliert die Konzentration und fängt an, sich mit anderen zu unterhalten. Die fortwährenden Aufforderungen um Ruhe, die man in einigen Synagogen hört, sind ein deutlicher Beweis für dieses Problem.

Um derartige Schwierigkeiten zu vermeiden und den Respekt wiederherzustellen, den man während der Thoralesung haben sollte, wird in progressiven Synagogen jede Woche ein kürzerer Abschnitt gelesen. Was der Wochenabschnitt an Länge verliert, gewinnt er an Würde. Die Gemeinde ist in der Lage, den Abschnitt zu verstehen und sich auf seine Bedeutung zu konzentrieren. Mit kürzeren Abschnitten ist es jedoch unmöglich, die gesamte Thora innerhalb eines Jahres zu lesen, deshalb werden die Lesungen über einen Zeitraum von drei Jahren verteilt. Diese „Neuerung“ ist in Wirklichkeit lediglich die Wiederaufnahme des ursprünglichen Brauchs der Thoralesung im alten Israel. Dort dauerte ein Lesezyklus von Genesis bis Deuteronomium drei Jahre (Megilla 29b, „dreijähriger Zyklus“). Es war der spätere babylonische Brauch, die Lesungen in ein einziges Jahr zusammenzudrängen („einjähriger Zyklus“), der sich dann als die übliche jüdische Praxis durchgesetzt hat.

Beide Traditionen lassen sich miteinander verbinden, wenn jede Parascha des jährlichen Zyklus („Wochenabschnitt“) in drei Teile unterteilt wird. Auf diese Weise kann trotz der Beachtung eines dreijährigen Zyklus dieselbe Parascha gelesen, die weltweit auch in allen anderen Synagogen gelesen wird, wenn auch nicht in ihrem vollen Umfang. Die von den Reform Synagogues of Great Britain vorgeschlagene Leseordnung schließt nicht jedes einzelne Kapitel der Thora ein, denn bestimmte Abschnitte sind bei einer öffentlichen Vorlesung wenig gewinnbringend, wie zum Beispiel genealogische Listen (Genesis 36 [Wajischlach]) oder eine Auflistung von Hautkrankheiten (Levitikus 13 [Tasria]). Nicht immer stimmen die progressiven Thoralesungen mit dem orthodoxen Brauch überein. Dies liegt daran, dass das progressive Judentum der biblischen Definition der Länge der Feste folgt, die heute allgemein in Israel beachtet wird. Der orthodoxe Kalender fügt dagegen in der Diaspora an vielen Festen einen zusätzlichen Tag an. Das bedeutet zum Beispiel, dass Simchat Thora im progressiven Judentum unmittelbar nach den sieben Tagen von Sukkot gefeiert wird, während der orthodoxe Kalender einen achten Tag an Sukkot anfügt und Simchat Thora folglich einen Tag später gefeiert wird. Wenn dieser Tag ein Schabbat ist, wird in einer orthodoxen Synagoge der Festtagsabschnitt gelesen, in progressiven Synagogen sowie in allen Synagogen in Israel der normale Wochenabschnitt für diesen Schabbat.

Da in progressiven Synagogen ein kürzerer Wochenabschnitt gelesen wird, ist es im Unterschied zu orthodoxen Synagogen nicht üblich, sieben Personen aufzurufen. In einigen Gemeinden gibt es nur eine Alija („Aufruf“), in anderen ist es üblich, drei Alijot zu haben. Die Tradition von drei Alijot knüpft an den Brauch an, dass Montags und Donnerstags in den Morgengottesdiensten drei Personen zur Thoralesung aufgerufen wurden (Megilla 4,4). Jeder in der Gemeinde, der älter als dreizehn Jahre ist, männlich oder weiblich, ist zu einer Alija berechtigt. Die Person, der eine Alija gegeben wurde, rezitiert die Lobsprüche vor und nach der Thoralesung in Hebräisch, der Thora-Abschnitt selbst wird vom Vorbeter gelesen. Wer in der Lage ist, den Abschnitt selbst zu lesen, sei dazu ermutigt, denn dies war die ursprüngliche Sitte, bevor die allgemeine Hebräischkenntnis schwand und diese Aufgabe an einen Experten übertragen wurde. Einige progressive Synagogen bieten spezielle Kurse für diejenigen an, die lernen möchten, wie aus der Thora gelesen wird. Gegenbenfalls kann man jemanden bitten, seinen Bar/Bat-Mitzwa-Abschnitt erneut zu lesen, wenn er wiederkehrt. Auf diese Weise können diese Fähigkeiten aufgefrischt werden und man erinnert sich, dass Gemeinde nur dann funktioniert, wenn sie auf den Schultern vieler ruht.

Es ist nicht üblich, ein Mi-sche-berach (Segen) nach einer Alija zu sagen, denn die Ehrung gilt als in sich selbst ausreichend. Überdies führt diese Sitte in anderen Synagogen oft dazu, den Gottesdienst in eine unerträgliche Länge zu ziehen. Das progressive Judentum hat die Sitte des Schnoderns abgeschafft, bei der entweder finanzielle Angebote für die Ehrung durch eine Mitzwa gemacht werden oder die Empfänger einer Mitzwa eine Spende für wohltätige Zwecke versprechen und öffentlich ankündigen. Dies war früher eine wirksame Methode der Spendenbeschaffung. Heute jedoch empfindet man diesen Brauch in einem Gottesdienst als unpassend. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf finanzielle Dinge und schließt ärmere Gemeindemitglieder davon aus, eine Mitzwa zu bekommen. Das Prinzip, keinen Unterschied zwischen Arm und Reich zu machen, war auch der Grund, die Sitte abzuschaffen, sich Sitzplätze in der Synagoge zu kaufen, wie es in einigen orthodoxen Gemeinden immer noch üblich ist. Stattdessen gehört kein Sitzplatz irgendeiner bestimmten Person und alle, die zum Gottesdienst kommen, dürfen sitzen, wo sie möchten.

Die Art und Weise, in der die Thora rezitiert wird, hängt vom Brauch der jeweiligen Synagoge ab. In einigen Gemeinden wird der Abschnitt nach einer traditionellen Melodie gesungen. Da man den Eindruck haben kann, dass es eher vom Sinn des Textes ablenkt, als ihn zu vertiefen, zieht man es vor, den Abschnitt stattdessen zu rezitieren. In der Regel wird vor oder nach der Lesung eine deutsche Übersetzung gegeben oder eine Zusammenfassung des Inhalts in deutsch. Dieser Brauch, den gelesenen Text zu erklären, geht auf die erste Erwähnung einer öffentlichen Lesung aus der Thora zurück (Nehemia 8,8). Eine andere Möglichkeit ist, jeweils einen Vers in Hebräisch zu lesen und ihn dann ins Deutsche zu übersetzen, vor allem für diejenigen, die kein Hebräisch verstehen. Dieser Brauch lässt sich aus der Mischna ableiten (Megilla 4,4).

Die Auswahl der Haftara-Abschnitte („abschließende Lesung“) wurde erweitert, um dem dreijährigen Zyklus der progressiven Gemeinden gerecht zu werden. An einigen Stellen entscheidet der Termin des Schabbat über die Lesung. In der Haftara am Schabbat vor dem 9. Aw geht es um eine Verurteilung der Sünden Israels, während diejenige am Schabbat nach dem 9. Aw Trostworte enthält. Im Allgemeinen steht die Haftara jedoch in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Thora-Abschnitt. Zum Beispiel erzählt die Haftara zu Schelach Lecha, das Josua Kundschafter aussendet (Josua 2), parallel zu den Kundschaftern, die Mose aussandte (Numeri 13 [Schelach Lecha]). Für jeden Wochenabschnitt innerhalb des dreijährigen Zyklus wird eine Haftara ausgewählt. Eine von ihnen ist die traditionelle Haftara des einjährigen Zyklus und die zwei weiteren sind neue Abschnitte. Während die Haftaralesungen des einjährigen Zyklus auf Prophetenabschnitte begrenzt waren, werden von uns auch Texte aus den anderen Schriften ausgewählt, so dass die öffentliche Lesung auf Bücher wie Ijob, Proverbien, Daniel und Nehemia ausgedehnt wurde. Auch dies geht auf einen älteren Brauch zurück, denn in talmudischer Zeit dienten auch Abschnitte aus den Ketuwim als Haftara (Schabbat 116b) und ganze Bücher aus diesem Teil der Bibel werden bis heute an Festtagen gelesen: z.B. das Buch Ruth an Schawuot und Kohelet an Sukkot. Eine junge Entwicklung ist der Einschluss eines Textes aus den deuterokanonischen Schriften, die außerhalb des jüdischen Kanons der Heiligen Schriften stehen. Doch die Lesung von 1. Makkabäer 2,1-28 als Haftara für den zweiten Schabbat in der Chanukka-Zeit erscheint als vollkommen angemessen und geeigneter als der Bibeltext, den der traditionelle Kalender vorsieht (1. Könige 7,40-50). In den meisten Synagogen wird die Haftara in Deutsch gelesen, die Lobsprüche vorher und nachher werden in Hebräisch gesprochen. Der Lobspruch nach der Haftara enthält nur den letzten von vier Abschnitten, die im orthodoxen Gebetbuch benutzt werden, um die Rezitation zu kürzen und ihn dem Lobspruch vor der Haftara anzugleichen.

In Anhang III geben wir Anregungen zu einer Leseordnung in den deutschsprachigen Gemeinden. Es ist allerdings Aufgabe des Rabbiners, Thora-Abschnitt und Haftaralesung festzulegen.

Musik im Gottesdienst
In progressiven Synagogen gibt es viele verschiedene musikalische Bräuche. Etliche Gemeinden haben Instrumentalmusik in den Schabbatgottesdiensten, im Allgemeinen in Form einer Orgel. Andere haben keine Instrumentalbegleitung (oder nur zu bestimmten Anlässen, wie Gitarren oder Klarinetten in Jugendgottesdiensten). Die Entscheidung ist ausschließlich eine Frage des lokalen Brauchs, anders als in orthodoxen Synagogen, in denen die Instrumentalmusik grundsätzlich abgelehnt wird. Es ist allgemein bekannt, dass zur Zeit des Tempels Musik ein Teil des Gottesdienstes war und dass eine Reihe von Instrumenten benutzt wurde: Seiteninstrumente, Trompeten, Becken, Trommeln und Flöten. Der Psalmist setzt dies in seinem Schir le-Jom ha-Schabbat („Lied für den Schabbattag“) als selbstverständlich voraus (Ps 92,2-4):

Es ist schön, dem Ewigen zu danken,
deinem Namen, du Höchster, zu singen,
am Morgen deine Huld zu verkünden
und in den Nächten deine Treue,
zur zehnseitigen Laute, zur Zither,
zum Klang der Harfe.

Das Buch der Chronik enthält eine ausführliche Liste der Sänger im salomonischen Tempel, die offenbar eine wichtige Rolle im öffentlichen Gottesdienst spielten (1. Chronik 25). Psalm 150 zählt viele Instrumente auf, die zum Lobe Gottes benutzt wurden. Doch später wurde die Instrumentalmusik im Gottesdienst aus verschiedenen Gründen verboten. Zum einen war die Verwendung von Instrumenten außerhalb des Tempels nach den Gesetzen über die Schabbatruhe untersagt und man hatte die Sorge, dass man ein beschädigtes Instrument am Schabbat reparieren müsse (Eruwin 104a). Zum anderen drückt das Verbot symbolisch die Trauer über die Zerstörung des Tempels aus (Schulchan Aruch, Orach Chajjim 560,3). Schließlich wurde die Vermeidung von Musik durch die Tatsache verstärkt, dass die Orgel sich im christlichen Gottesdienst immer mehr durchsetzte und man sehr bemüht war, keine nichtjüdischen Bräuche nachzuahmen (auf der Grundlage von Levitikus 18,3 [Achare Mot]).

Das progressive Judentum hält alle diese Einwände für nicht überzeugend. Ein Musikinstrument zu spielen gilt im progressiven Judentum nicht als „Arbeit“ (siehe VI.2), sondern als eine angenehme Tätigkeit, die mit dem Geist der Schabbatfreude in Einklang steht. Der Verlust des Tempels war ohne Frage ein tragisches Ereignis und ein Wendepunkt in der jüdischen Geschichte. Es gibt vieles, was an ihn erinnert: die Beachtung von Tischa be-Aw oder die Übernahme zahlreicher Gegenstände oder Symbole des Tempels in die Synagoge (das ewige Licht, die Glöckchen und das Brustschild der Thorarolle, das Glas, das bei einer Hochzeit zerbrochen wird). Dies gilt als ausreichende Erinnerung. Es besteht keine Notwendigkeit, die Zahl der Erinnerungen dadurch zu erhöhen, dass man die Musik verbietet. Vielmehr raubt das Verbot im Gottesdienst eine Möglichkeit, einiges zu seiner Schönheit und Harmonie beizutragen. Einige vertreten die Auffassung, die Vereinigung Jerusalems 1967 habe die Trauerzeit ohnehin beendet. Ob die Verwendung einer Orgel die Nachahmung einer christlichen Sitte ist, bleibt umstritten. Man hat sogar einmal behauptet, dass im Tempel ein früher Vorläufer der Orgel gespielt worden sein könnte (Arachin 11a). Hinzu kommt, dass Orgeln lediglich Werkzeuge sind, die in Kirchen in einer bestimmten Art und Weise verwendet werden. Es wäre zwar unangemessen, in einem Synagogengottesdienst Hymnen und Melodien zu benutzen, die für den christlichen Gottesdienst komponiert wurden, doch die Orgel selbst ist „neutral“ und sollte ebenso wie die Buntglasfenster nicht mehr länger verboten sein. Die Schwäche des Arguments wird auch daran sichtbar, dass in einigen modernen orthodoxen Synagogen bei Hochzeiten eine Orgel gespielt wird, ein Brauch, der im 17. Jh. aufkam.

Progressive Synagogen, die eine Orgel benutzen, haben oft auch Chöre. Auch Gemeinden ohne Orgel können Chöre haben, doch viele geben dem Gemeindegesang den Vorrang. In jedem Fall sind die Chöre aus Frauen und aus Männern gemischt. Die orthodoxen Einwände, dass Frauen nicht in einem Chor singen dürften, da die weibliche Stimme unzüchtige Gedanken hervorrufe (Sota 48a), wird als vollkommen unnötige Vorsichtsmaßnahme angesehen, die in der heutigen integrierten Gesellschaft nicht begründbar ist. Einige Synagogen erlauben, dass nichtjüdische Personen im Chor mitsingen, doch im Allgemeinen ist es schöner, wenn die Mitglieder eines Chores zum Kern der Gemeinde gehören. Auch wenn die stimmliche Leistung einer kleinen Gemeinde begrenzt ist, wird ihr Engagement den Gottesdienst bereichern. Wo Gemeinden einen Kantor beschäftigen, obliegt diesem die musikalische Durchformung der Gottesdienste in Abstimmung mit dem Rabbiner.

Minjan
Traditionell kann das persönliche Gebet zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort erfolgen, doch einige der Stammgebete erfordern die Anwesenheit eines Minjan, das heißt einer Mindestzahl von zehn Männern, die das dreizehnte Lebensjahr überschritten haben (Berachot 6a). Die Zehnzahl leitet sich von Numeri 14,27 [Schelach Lecha] her. In diesem Vers bezieht sich der Ausdruck „diese böse Gemeinde“ auf die zwölf Kundschafter minus Josua und Kaleb, das heißt, eine „Gemeinde“ besteht aus zehn Männern (Sanhedrin 1,6). Sie kann ebenfalls von Abrahams Bitte an Gott hergeleitet werden, die Stadt Sodom zu verschonen, wenn sich dort zehn gerechte Männer finden werden (Genesis 18,32 [Wajera]). Die Gebete, die einen Minjan benötigen, sind das Barchu, die Keduscha, die Lobsprüche vor und nach der Thora- und Haftaralesung und das Kaddisch (Megilla 4,3; Soferim 10,7). Diese Regelung hebt die Pflicht eines jeden einzelnen hervor, zu helfen, einen Minjan zustande kommen zu lassen. In diesem Sinn war dies ein höchst verdienstvoller Brauch. Allerdings geht die Minjan-Regelung davon aus, dass Juden eng beieinander wohnen und stets Zeit für die Gottesdienste haben. Dies ist heute kaum mehr der Fall. Juden leben über das ganze Land verstreut. In Synagogen in ländlichen Gebieten, neuen Städten und Orten mit einer geringen jüdischen Bevölkerung gibt es oft Mitglieder, die für die Schabbatgottesdienste zusammenkommen möchten, aber keinen Minjan zusammenbekommen. In solchen Fällen fördert der Minjan das Gemeindegebet nicht, sondern verhindert es, weil er diejenigen vom Gebet abhält, die den Wunsch hatten, den Gottesdienst zu feiern. Hinzu kommt, dass nur Männer in den Minjan eingeschlossen sind und dies dem Grundsatz des progressiven Judentums über die Gleichberechtigung der Geschlechter widerspricht. Der Minjan kann damit zu der lächerlichen Situationen führen, dass in einer Synagoge neun Männer und 25 Frauen anwesend sind und vom orthodoxen Standpunkt aus gesehen die Mindestzahl von zehn nicht erfüllt ist. In progressiven Synagogen wurde die Notwendigkeit eines Minjan für öffentliche Gottesdienste daher abgeschafft und die Gebete und die Thoralesung können unabhängig von der Anzahl der anwesenden Teilnehmer durchgeführt werden. Die Entscheidung, einen Gottesdienst mit weniger Personen als einem Minjan von zehn zu feiern, ist übrigens nichts Außergewöhnliches, denn sie knüpft an einen ursprünglichen Brauch in Israel an, nach dem – der Meinung verschiedener Schulen zufolge – sechs oder sieben als notwendige Mindestzahl ausreichten. Erst die spätere babylonische Praxis hat die Zahl auf zehn festgelegt (Soferim 10,7).

Alle progressiven Synagogen stimmen darin überein, dass die Schabbatgottesdienste ohne einen Minjan stattfinden können, doch es gibt unterschiedliche Bräuche bezüglich der Thoralesung. Manche Gemeinden gehen davon aus, dass sich das oben geschilderte Prinzip in gleicher Weise auf die Thoralesung beziehen müsse – wegen ihres didaktischen Wertes vielleicht sogar in noch stärkerem Maße. Sie halten den Thoragottesdienst unabhängig von der Anzahl der anwesenden Personen. Andere meinen, die Thoralesung stehe auf einer anderen Ebene als die Rezitation der Gebete und sollte eigens bedacht werden. Hinzu kommt eine rein praktische Frage, denn der Thoragottesdienst schließt eine beträchtliche Anzahl von Tätigkeiten ein: Das Öffnen des Schreins, das Herausnehmen der Rolle, die Prozession durch die Gemeinde, die Entkleidung und das Emporheben der Rolle. Dies setzt eine Gemeinde von zehn Personen voraus. Daher ist es in den meisten Gemeinden Brauch, den Thoragottesdienst nur dann zu halten, wenn ein Minjan anwesend ist, wobei die Zählung des Minjans Frauen einschließt und im Sinne von zehn Erwachsenen definiert ist. Wenn weniger als zehn Erwachsene anwesend sind, wird der Wochenabschnitt entweder aus einem Chumasch (der gedruckten Ausgabe der fünf Bücher Mose) gelesen oder aus der Rolle, doch ohne die übliche Prozession und die Lobsprüche.

Abgesehen vom synagogalen Gottesdienst gibt es verschiedene andere Gelegenheiten, für die ein Minjan benötigt wird. Dazu zählen die Schiw’a und die Gottesdienste im Haus eines Trauernden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die normalen Wochentagsgottesdienste, die sonst in einer Synagoge gehalten werden, nun aber stattdessen im Trauerhaus stattfinden. Dies geschieht aus Rücksicht, damit die Hinterbliebenen während der Trauerzeit ihr Haus mit Ausnahme des Schabbat zum Beten nicht zu verlassen brauchen. Es gibt keinen Grund, warum der Minjan in einem Privathaus notwendiger wäre als in einer Synagoge. Der Grundsatz des progressiven Judentums über den Ablauf eines synagogalen Gottesdienstes einschließlich des Kaddisch ohne einen Minjan bezieht sich auch auf den Schiw’a-Gottesdienst. Das soll aber nicht heißen, dass nicht möglichst viele zum Gebet zusammen kommen sollen, denn das Gebet in Gemeinschaft hat einen überaus hohen Stellenwert.

Dies gilt für die Schiw’a in besonderer Weise, denn die Mitglieder der Gemeinde können ein großer Trost für die Trauernden sein, unabhängig davon, ob sie sich vorher nahestanden oder nicht. Die Verantwortung eines Juden für den anderen Menschen, einschließlich des Aspekts, dass alle dazu beitragen, eine Gemeinde für das Gebet zu bilden, ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe, die alle betrifft.

Im Falle einer Beerdigung verfährt man in derselben Art und Weise. Es wird allen in der Gemeinde nahegelegt, sie zu besuchen, sowohl als Zeichen der Ehrung für die verstorbene Person als auch zur Unterstützung der Trauernden, doch der Trauergottesdienst wird unabhängig von der Zahl der Anwesenden durchgeführt. In einigen Kreisen ist es verboten, dass ein Trauernder bzw. eine Trauernde das Kaddisch für einen Angehörigen sagt, wenn kein Minjan zustande gekommen ist. Dies gilt im progressiven Judentum als eine nicht zu rechtfertigende Vergrößerung ihrer Schmerzen und steht im Gegensatz zum Geist der jüdischen Trauerrituale.

Ein weiterer Anlass, für den traditionell ein Minjan erforderlich ist, sind die Schewa Berachot, die sieben Lobsprüche, die bei einer Hochzeit rezitiert werden (Ketuwot 7b). In der Regel ist die Synagoge zu diesem Anlass ohnehin voller Menschen, die Familien und Freunde des Paares nehmen an dem Ereignis teil. Dennoch gibt es Hochzeiten mit weniger als einer Handvoll anwesender Menschen, zum Beispiel wenn es keine Familie gibt oder wenn es sich um eine zweite Eheschließung handelt. Auch dann findet der vollständige Traugottesdienst statt und jede Kürzung würde das betroffene Paar tief verletzen. Die jüdische Gültigkeit einer Hochzeit hängt von der Übergabe des Rings, dem Ehegelöbnis und der Unterzeichnung der Ketuba vor zwei Zeugen ab. Ob dabei ein Minjan anwesend war oder nicht ist für die Gültigkeit der Ehe nach dem jüdischen Gesetz ohne Bedeutung.

Eine Brit Mila erfordert nach dem jüdischen Gesetz nie die Anwesenheit eines Minjan. Die Tradition, dass die Familie und Freunde anwesend sind, zeigt ihre Anteilnahme an der Freude über die Geburt und dient nicht dazu, einen Minjan zu gewährleisten.

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